Ueber Meereshoehe
keinen Grund, sich zu wehren, zu beklagen, zu empören, sondern nur das zu tun, was nötig war, also den Kühen Heu zu geben, ihre Milch zu verkaufen und ihre fünf Kinder sauber zu halten, bloà alles eben ohne ihren Ehemann.
Mittlerweile waren es fast zehn Jahre, dass sie genau dies tat.
Paolo merkte, dass die Frau ihn ansah.
»Sind Sie Lehrer?«, fragte sie.
Er hob eine Augenbraue, und seine Stirn legte sich in Falten wie ein nachlässig zum Trocknen aufgehängtes Betttuch.
»Sieht man mir das so genau an?«
»Dass Sie studiert haben? Ja, das schon.«
»Und woran erkennt man das?«
Luisa musterte ihn mit der Miene eines Malers, der das Gemälde betrachtet, an dem er gerade arbeitet. Paolo hätte sich nicht gewundert, wenn sie aufgestanden und einen Schritt zurückgetreten wäre, um seine Gesichtszüge noch genauer zu studieren. Doch sie saÃen auf der Bank eines Jeeps der Strafvollzugspolizei, und hinter ihnen, jenseits der halb geöffneten Hecktür, lag nur die Insel, über die gerade der Maestrale peitschte. So blieb sie sitzen.
»Ich weià es nicht. Aber man sieht es.«
»Ich war Lehrer für Geschichte und Philosophie an einem Gymnasium.«
»Philosophie ⦠Das ist schwer!«
Er schob die Unterlippe vor.
»Ach, ich weià nicht ⦠Jedenfalls ist mir Philo sophie lieber als Geschichte.«
»Warum?«
»Geschichte wird mit Waffen gemacht. Philosophie mit Ideen.«
»Und was machen sie heute?«
»Ich arbeite nicht mehr. Ich bin zu Hause.«
»Dann sind sie also pensioniert?«
»Nein.«
Wieder sah ihm die Frau mit ihren klaren Augen direkt ins Gesicht. Ihr Blick , dachte Paolo, ist immer gleich, egal ob sie mich ansieht, die Pferde oder das Meer. Und jetzt wird sie mich fragen, warum ich nicht mehr arbeite. Doch so war es nicht.
»Für einen Rentner kamen Sie mir auch zu jung vor. Was machen Sie denn so den ganzen Tag?«
Paolo blickte durch die Hecktür hinaus. Es hatte zu regnen begonnen, und vom Sturm getrieben prasselten die schweren Tropfen hernieder. Um das unauf hörliche Trommeln auf dem Wagendach zu übertönen, musste er fast schreien.
»Ich lese. Gehe spazieren. Meine Schwester hat mir einen Hund geschenkt, mit dem gehe ich spazieren. Und wenn ich eine Genehmigung bekomme, besuche ich meinen Sohn.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Nun, das wissen Sie ja.«
»Was?«
Wieder starrte die Frau ihn unverwandt an. Doch das hatte weder etwas mit mangelnder Intelligenz noch mit einem möglichen Unbehagen angesichts ihres Gesprächs zu tun, dessen war sich Paolo sicher.
»Ich wollte sagen: Das Einzige, was Sie über mich wissen, ist ja, wo mein Sohn jetzt ist.«
»Nein, nein, nicht Ihr Sohn. Der Hund.«
»Ach so ⦠Zu Hause.«
»Und wer füttert ihn heute?«
»Bevor ich losfahre, bringe ich ihn immer bei meiner Schwester vorbei. Zum Glück habe ich nur ein Tier zu versorgen, nicht siebenunddreiÃig.« Und er lächelte sie an.
Sie lächelte nicht zurück. »Ja, mit einem Tier ist es leichter.«
Genau das ist es, dachte Paolo, eine Art fehlende Antenne für ironische Bemerkungen, rhetorische Ãber treibungen, Zwischentöne. Und für die kleinen Brüche eines Gesprächs, für Missverständnisse, wie das mit dem Hund.
»Da â¦!«, zischte Luisa plötzlich. Sie hatte so ruck artig aus der Hecktür ins Freie gezeigt, dass man hätte glauben können, sie wolle ihren Finger hinausschleudern.
Unmittelbar vor dem Jeep, nur wenige Meter von ihnen entfernt, stand ein Keiler. Das bereits winterliche, vom Regen triefnasse Fell klebte ihm an der Schwarte. Die zottigen, aufgerichteten Borsten verdickten seinen Hals derart, dass der Kopf direkt in den Rumpf überzugehen schien. Wie von Stalaktiten tropfte ihm von den Spitzen der oberen Eckzähne das Regenwasser. Seine Schnauze war zum Wagen gerichtet, und aus kleinen, aber überraschend sanften, fast an einen Hund erinnernden Augen blickte der Keiler sie an.
Paolo und Luisa hielten den Atem an. In der Luft verbreitete sich der stechende Geruch von nassem Fell, Schlamm und fauligem Atem. Wie das Porträt eines Ahnen vom Bilderrahmen wurde der Keiler von den Kanten der Türflügel eingefasst. Die Schnauze hochgereckt, offenbar angeregt durch den Menschen geruch, stand er endlos lange Augenblicke nur da und schnupperte in die Luft. Dann drehte
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