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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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wer ihr Ehemann war. Jemanden mit bloßen Händen umzubringen, war gar nicht so einfach, auch wenn man sturzbetrunken war. Sie fragten sie also, was er für ein Mensch sei.
    Luisa erzählte nichts von ihrem Ausflug in die Berge, bei dem er sie fast in den Abgrund gestoßen hätte. Und auch nichts von den späteren Vorfällen. Auf die neugierigen Fragen der Nachbarin hatte sie damals mit Ausflüchten reagiert: Sie sei gestolpert, habe sich an einer Kante der Anrichte das Gesicht gestoßen oder einen Balken exakt auf der Höhe ihres Wangenknochens übersehen. Sie erzählte auch nicht, wie sich Ciriano, noch ganz klein, hinter ihr versteckt hatte, weil der Vater ihn verfolgte, und sie dem Kleinen als Schutzschild diente – im wahrsten Sinne: Sie hielt die Schläge ab, erst mit ihrem Gesicht, dann mit der Brust, schließlich mit dem ganzen Körper. Als sie am Boden lag, versuchte Ciriano, den Vater zurückzuhalten, zusammen mit der ältesten Schwester, die die Schreie gehört hatte und herbeigelaufen war. Anna und Ciriano waren noch klein, doch sie klammerten sich von hinten an diesen Hünen von Mann, der ihr Vater war, damit er endlich aufhörte, auf die Mama einzutreten.
    Und er hörte auf, stand mit hängenden Armen da und begann zu weinen. Er half ihr aufzustehen und versuchte, die beiden Kinder in den Arm zu nehmen. Doch die flohen vor ihm, und so drückte er nur seine Frau fest an sich und flehte sie um Verzeihung an. Die aber, noch auf unsicheren Beinen wankend, sagte nur zu ihm:
    Â»Geh in den Stall melken. Es ist schon spät.«
    Von diesen Zwischenfällen berichtete sie den Carabinieri nichts. Andere Dinge, die nicht weniger wahr waren, erwähnte sie.
    Â»Er arbeitet von früh bis spät.«
    Â»Er lässt es uns an nichts fehlen.«
    Â»Er ist ein ehrlicher Mann.«
    Schließlich erzählte sie, wie sie einmal bei einem fliegenden Händler an der Haustür einen Besen gekauft hatte und, zurück in der Küche, feststellte, dass ihr der Händler zehn Lire zu viel herausgegeben hatte. Mit zehn Lire konnte man sich gerade mal ein Bonbon kaufen, vielleicht auch zwei. Aber ihr Mann habe darauf bestanden, dass Anna, damals sieben, dem Ver käufer, der schon längst weitergezogen war, die Straße hinunter nachrannte, um ihm das Kleingeld zurückzugeben.
    Als Luisa endlich von der Polizeiwache nach Hause kam, nahm sie ihre Kinder mit zu sich ins Bett. Alle, nicht nur die jüngsten. Anna war damals elf, Ciriano zehn, Maddalena sieben, Irene fünf und Luca zwei. Sie wollte sie an sich drücken, jedes einzelne, ihren Geruch einatmen so wie früher, als sie sie gestillt hatte. Die drei Jüngsten kuschelten sich in ihre Arme, während sich die beiden Älteren verdutzte Blicke zuwarfen: Schon seit Jahren hatte ihre Mutter sie nicht mehr in den Arm genommen. Und so schmiegten sie sich mit einem Gefühl vager Verlegenheit, aber auch unerwarteten Wohlbehagens an sie. Erst in diesem Moment wurde Luisa bewusst, dass sie, solange ihr Mann in Haft war, das Bett nicht mehr mit ihm teilen würde. Und eine unaussprechliche, dunkle Erleichterung überkam sie.
    Am nächsten Morgen waren die Kühe zu melken, war Wäsche zu waschen, den Kindern Essen zu machen. Sie wusch sich das Gesicht, band sich die Haare zusammen und machte sich an die Arbeit. Den ganzen Tag arbeitete sie, als habe sie das alles immer gewusst: schon am Morgen ihrer Hochzeit, als die Freunde des Bräutigams sie, die Braut, entführt hatten, und ihre Verwandten gekommen waren, um sie unter Hupen, Kreischen und Lachen zu befreien. Und dann, als ihre kleine Cousine, damals noch in der Grundschule, die Ringe auf einem Kissen zum Altar gebracht hatte, und Braut und Bräutigam vor Gott und den Menschen gelobten: Ja, mit dir will ich zusammen sein, bis dass der Tod uns scheidet. Als habe sie in all diesen Momenten vorhergesehen und einkalkuliert, dass dieser Mann, den sie da heiratete, eines Tages zu vielen Dutzend Jahren Haft verurteilt würde, weil er jemanden mit bloßen Händen umgebracht hatte, erschwert durch den Umstand, dass die Tat aus »nichtigen Beweggrün den« – wie es im Urteil hieß – geschah und dass man ihm nach einiger Zeit noch einmal ein paar Dutzend Jahre zusätzlich draufpacken würde, weil er einen Vollzugsbeamten »während der Ausübung sei ner Pflichten« tötete. So als habe sie daher gar

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