Ueber Meereshoehe
harmlose Leute.«
»Fantastisch, Nitti. Du kennst dich aus. Schaust den Leuten einmal ins Gesicht, und schon weiÃt du, mit wem du es zu tun hast. Ob es anständige Menschen sind oder Verbrecher. Eigentlich müsstest du der Richter sein.«
»Die beiden haben nie vor einem Richter gestanden. Das sind Angehörige, keine Häftlinge.«
Jetzt endlich hob der Direktor den Blick.
»Aha. Und für dich sind das natürlich zwei völlig verschiedene Dinge.«
Nitti dachte wieder daran, wie er vor einiger Zeit von seinem Direktor geträumt hatte. Die ganze Nacht lang hatte er ihn mit Fäusten und Tritten bearbeitet, hatte ihm mit den Stiefeln die Hände zerquetscht und ihm ins Gesicht uriniert. Als er aufwachte, war er in bester Stimmung gewesen.
Er antwortete nicht.
»Du bist mir für sie verantwortlich, bis sie an Bord sind«, sagte der Direktor, indem er seine Aufmerksamkeit wieder dem Nagel seines rechten kleinen Fingers zuwandte.
»Aber mein Dienst ist schon seit drei Stunden zu Ende! Bis morgen habe ich frei!«
»Umso besser. Dann hast du ja genug Zeit, dich um die beiden zu kümmern.«
Erneut setzte Nitti an, etwas zu erwidern, unterlieà es dann aber.
Als er zehn Jahre zuvor auf die Insel gekommen war, hatte noch ein anderer Direktor die Anstalt geleitet; das war der, der ihn damals zu den Vergewaltigern gesteckt hatte, um ihm einen Gefallen zu tun. Der alte Direktor hatte seine Frau mit auf die Insel gebracht, und die langweilte sich hier. Sie nahm sich den Geländewagen ihres Gatten und fuhr die Insel rauf und runter, bis sie eine Gruppe von Häftlingen mit Freigang fand, die irgendwo auf dem Feld arbeiteten. Dann stieg sie aus und begann, Fragen zu stellen. Wie geht es deiner Familie? Bekommst du hier genug zu essen? Was macht die Gesundheit? Sie redete wie ein Priester und kleidete sich wie eine Hure: zwängte ihre Brüste in winzige Oberteile und trug Miniröcke, die nur wenig länger als ein Gürtel breit waren und die ihre Oberschenkel sehen lieÃen und alles andere auch. Wenn die Gefangenen sie sahen, gerieten sie völlig aus der Fassung: Ja, ja, alles in Ordnung; danke, zu Hause gehtâs allen gut; danke, gut, ich muss zum Zahnarzt , und dabei wandten sie den Blick nicht mehr von ihrem Ausschnitt ab. Nach solchen Besuchen waren die Häftlinge nervös, gerieten ständig in Streit, versuchten, ihn andern in den Arsch zu stecken, und abends schien der ganze Knast zu schwanken, weil sich alle gleichzeitig einen runterholten. Und zum ersten Mal hatte Nitti gedacht, dass eine Frau, die einem ihre ganze Ausstattung so vor den Latz knallte, auch lästig sein konnte.
Das war noch die Zeit, als er voller Sehnsucht zu den Scheinwerfern der Ãlraffinerie auf dem Festland hinübergeblickt hatte. Einmal, als er auf Urlaub zu Hause war, hatte er auf dem Postamt seines Heimatdorfes ein Telegramm aufgegeben. Die Anschrift war eben jene, die die Angehörigen der Häftlinge auf ihre Briefe schrieben, aber er hatte noch ZU HÃNDEN DES DIREKTORS hinzugefügt. Der Text lautete: Verfüge Versetzung DES JV-Beamten Nitti Pierfrancesco â ERSETZUNG DURCH BEAMTEN namens Adriano Celentano . Der Angestellte auf der Post hatte mit Nitti die Grundschule besucht und wollte gerade dessen Namen als Absender eintragen, als der ihn zurückhielt:
»Nein, nein. Schreib: ministerium für Gnade und Justiz .«
»Aber das sind fünf Worte«, wandte der frühere Klassenkamerad ein. »Das kostet dich ein Vermögen.«
»Dann schreibâs eben in einem Wort.«
Gleichzeitig trafen sie auf der Insel ein: das Tele gramm vom Postamt und er aus dem Urlaub. Der Direktor musste lachen, vor allem als er ministeriumfürGnadeundJustiz in einem Wort las. Die gewünschte Versetzung allerdings bewilligte er ihm nicht.
Wem sie dann bewilligt wurde, war der Direktor selbst. Er hatte von den Ausflügen seiner Frau erfahren und den Antrag gestellt, fortan wieder eine herkömmliche Anstalt leiten zu dürfen, ein Gefängnis, in dem die Häftlinge ordentlich eingeschlossen in ihren Zellen saÃen und bei denen eine Frau nicht einfach mal so rein zufällig auf ein Schwätzchen vorbeischauen konnte.
Jetzt wandte Nitti dem Direktor den Blick zu. Dessen Frau wohnte nicht auf der Insel. Welchen Spitznamen sich die Frau seines Vorgängers schnell eingehandelt hatte, lag auf der Hand. Die aktuelle dagegen wurde
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