Ueber Meereshoehe
Isolationshaft, die oft genug jedes ermittlungstechnisch vernünftige Maà überstieg; die willkürliche Beschneidung von Kontakten nach drauÃen; Ãberbelegung; Zellen, denen so manches Mal selbst die allernötigste sanitäre Ausstattung fehlte. Oder sie kämpften gegen eine Notstandsgesetzgebung, die es möglich machte, Menschen wegen schwerster Delikte (etwa Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung oder Beteiligung an terroristischen Attentaten) anzuklagen, die vielleicht nur Papiere in Verwahrung genommen hatten, deren Inhalt sie gar nicht kannten, die einen Freund von Freunden eine Nacht lang beherbergt hatten oder in deren Kalender eine falsche Telefonnummer gefunden worden war.
Paolo kannte genügend solcher Fälle, in denen der Staat mit brutaler bürokratischer Gewalt reagiert hatte. Zum Beispiel den einer Frau, deren Mann mit Haftbefehl gesucht wurde, und bei der eines Nachts die Carabinieri hereinplatzten: Sie fanden Waffen, die ihr Mann im Bettchen ihres Säuglings versteckt hatte. Die Frau wurde festgenommen und nie mehr freigelassen, sondern im Gegenteil später zu dreiÃig Jahren Haft wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung verurteilt. Ihr Kind kam in die Obhut des Jugendamtes. Noch viele Wochen nach ihrer Festnahme hatte die Frau in der Untersuchungshaft immer wieder an ihren Brustwarzen gezogen und ihre Brüste massiert, sodass die Muttermilch ihren Häftlingskittel befleckte. Von ihrem Mann hatte sie nie mehr etwas gehört. Jahre später erfuhr sie, dass er wohl in einem tropischen Land lebe. Irgendwann begann sie, mit Engeln zu reden, die sie, wie sie behauptete, jeden Abend in ihrer Zelle besuchten.
Wenn Paolo von solchen Geschichten hörte, die von Leid trieften wie vergammeltes Fleisch von fauligem Saft, hatte er nur ein einziges Bedürfnis: sich davon fernzuhalten. In seinen eigenen, persönlichen Schmerz zu fliehen. Der brannte und vielleicht unerträglich war, aber immerhin vertraut. Und dann machte er sich daran, die Fotos anzuschauen. Von Emilia als junger Braut. Von ihrem Sohn als kleinem Jungen mit dem ersten Zeugnis in der Hand. Von ihnen dreien, glücklich im Garten des Hauses in Framura. Bilder aus dem Paradies, die es ihm erlaubten, sich mit unerbittlicher Genauigkeit vor Augen zu halten, wie tief der Absturz war.
Es gab aber auch Angehörige, die nie jemand traf, die man weder in den Besucherräumen im Gefängnis noch auf den Bänken im Gerichtssaal sah. Den Vater eines Zellengenossen seines Sohnes zum Beispiel, Funktionär der gröÃten Oppositionspartei. Als dessen Junge nach extrem langer Isolationshaft in den Normalvollzug zurück durfte, schrieb er an seine Eltern: âºMama, Papa, ich weià nicht mehr, wer ich bin, kommt bitte her und helft mir, mich zu erinnern.â¹ Aber selbst da lehnte es der Vater noch ab, seinen inhaftierten Sohn zu besuchen, und verbot es darüber hinaus auch seiner Frau.
Paolo war der einzige Angehörige der politischen Gefangenen gewesen, der sich nicht voller Empörung über diesen Vater geäuÃert hatte. Die anderen schmähten den Mann als Apparatschik, als kalten Politiker, der seine Vaterpflichten vergesse, nur um seine Partei vor dem Vorwurf der Nähe zum Terrorismus zu bewahren. Paolo konnte das nicht so sehen. Obwohl er selbst in jeder Instanz des Verfahrens gegen seinen Sohn im Gerichtssaal zugegen war, obwohl er jede Besuchsgelegenheit wahrgenommen hatte, die ihm die Behörde einräumte, obwohl er dazu noch viele Anträge auf zusätzliche Besuchstermine gestellt hatte, obwohl er sich also nicht grundverschiedener von diesem Vater hätte verhalten können, spürte er doch auch Verständnis für ihn. Oft genug hatte es ihn ja selbst gedrängt, zwischen sich und seinem Sohn eine Mauer zu errichten, einen tiefen Graben, ein Meer, einen Ozean, eine astronomische Distanz, was es auch sei, wenn es nur dazu taugte, dass er nichts mehr mit ihm zu tun haben musste. Konnte er sich da als besseren Menschen sehen, nur weil diesem Vater, im Gegensatz zu ihm selbst, das alles gelungen war?
Abgesehen von solchen Einzelfällen gehörten die meisten Angehörigen der Gefangenen dieser Initiative an. Sie kämpften für menschwürdigere Haftbedingun gen, für die Einhaltung der elementarsten Grundrechte, mit anderen Worten auch für die Einhaltung der Verfassung. Wie hätte man ihnen nicht recht geben können? Und
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