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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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»Zarin« genannt. Kam sie ihren Mann auf der Insel besuchen, reichte sie nur dem Pfarrer die Hand, dem Gefängnisarzt und dem Kapitän der Fähre, Vollzugsbeamten aber nie, geschweige denn einem Häftling. Dass sie es nicht unerträglich fand, von ihrem Mann getrennt zu leben, überraschte im Übrigen keinen. Einmal hatte es Randale im Sondergefängnis gegeben, die Wachen forderten Verstärkung an, und der Direktor machte sich auf den Weg, um mit den aufgebrachten Häftlingen zu verhandeln. Dabei ließen es die Kollegen zu, dass die Gämsen ihm erst einmal ordentlich eins mit dem Stuhl überzogen, bevor sie eingriffen.
    Nein, niemand mochte den Dottore. Hätte Nitti sein Telegramm zu dessen Dienstzeit aufgegeben, hätte er sicher etwas anderes als munteres Gelächter geerntet: Ein Jahr Nachtschicht wäre ihm sicher gewesen. Eines jedoch musste man dem Mann zugute halten: In einem Gefängnis unter seiner Leitung war noch nie jemand umgebracht worden. Weder ein Beamter noch ein Häft ling. In dieser bleiernen, blutigen Zeit ein Erfolg, der nicht zu unterschätzen war.
    Â»Bring sie im Glaspalast unter«, sagte der Direktor zu Nitti. »Ein Zimmer ist da fertig. Fahr sie mit einem Mannschaftswagen hin und lass den Transporter stehen. Und sag deiner Frau, sie soll ihnen was zu essen machen.«
    Nitti starrte ihn aus Augen so schmal wie die eines Scharfschützen an.
    Â»Ja, Dottore.«
    Er wandte sich ab und machte Anstalten, den Raum zu verlassen. Seine Hand lag bereits auf der Türklinke, als der Direktor ihn noch einmal zurückrief.
    Â»Ach, Nitti, wovon sind eigentlich die Flecken auf deiner Uniform?«
    Â»Von dem Häftling. Der hat getobt wie ein Wahnsinniger. Ich musste ihn ein wenig beruhigen.«
    Der Direktor schob die Unterlippe vor und schüttelte nachdenklich den Kopf.
    Â»Wie viel Blut wir Menschen doch im Gesicht haben …«
    Draußen auf dem Gang warteten Paolo und Luisa in der Art von Personen, die aus dem Umgang mit der Bürokratie ihre Lehren gezogen haben: im Stehen, ohne sich an die Wand zu lehnen, wachsam, um jede neue Entwicklung mitzubekommen, aber sich dennoch bewusst, hier der Gnade anderer ausgeliefert zu sein.
    Â»Ich bring Sie zu einem Münztelefon«, sagte Nitti. »Dann können Sie zu Hause Bescheid geben, wenn Sie möchten.«
    Â»Ja, bitte«, sagte Luisa.
    Â»Danke, aber bei mir ist das nicht nötig«, sagte Paolo.
    Nitti drehte sich zu ihm um und schaute ihm zum ersten Mal lange ins Gesicht.
    Der Regen hatte aufgehört, doch der Sturm erreichte jetzt fast Orkanstärke. Die Wellen brandeten in den kleinen Hafen, wo am Morgen die Fähre angelegt hatte, und dazwischen gab es kein Zurückrollen, keine Atempause. Eine nach der anderen explodierte schäumend an der Mole und überschwemmte sie mit mächtigem Getöse.
    Was die Brandung antrieb, schien weniger Wut als vielmehr Bosheit zu sein.
    Die kleinen Segelboote, die noch einige Stunden zuvor an den Pollern längs des Kais festlagen, waren an Land gezogen worden auf die Betonrampe, die zum Meer hin abfiel. Wie hilflose, gestrandete Walfische lagen sie dort, während das Wasser sie umspülte und sich zu ihnen vorreckte, als wolle es sich zurückholen, was es als sein Eigentum betrachtete. Die jodgesättigte Luft roch nach Algen und Metall. Am düsteren Himmel zuckte immer wieder ein violetter Schein.
    Auf der Straße, die den winzigen Ort mit seiner Handvoll heller Häuser durchzog, gab es keine Menschen mehr und am Himmel keine Vögel. Vielleicht auch keine Fische im Meer, dachte Paolo. Ihm schien es nicht unmöglich, dass alle lebenden Geschöpfe vor dem Sturm geflohen und nur sie drei zurückgeblieben waren: er, die Frau und dieser Vollzugsbeamte, der sie begleitete.
    Er fragte sich, ob auch sein Sohn auf den Sturm lauschte. Welche Windstärke war nötig, um in eine Gefängniszelle einzudringen? Eine Brise? Eine Bö? Wenn die Luft mit vierzig Knoten über den Erdboden raste, wie viel davon schaffte es dann, die Gefängnismauern zu überwinden, die massiven Wände, das dicke Glas der Lichtschächte zu durchdringen? Und das Tosen des Meeres, dieser rhythmische Ton, wenn sich das Flüssige mit äußerster Gewalt am Festen brach: Gelang es zumindest diesem Geräusch, die klebrige Stille eines Hochsicherheitsgefängnisses aufzubrechen? Wann sonst, wenn nicht während eines Unwetters

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