Ueber Meereshoehe
Paolo war auch mit allem einverstanden. Doch hatte er seit Emilias Tod für kaum noch etwas Kraft, am wenigsten aber für einen Aktivismus, in dem er zugleich die Weigerung spürte, die andere Seite der Geschichte zuzugeben: also das Motiv, den Grund, die eigentliche Ursache, weshalb ihre Söhne, Töchter, Ehemänner, Brüder, Schwestern im Gefängnis waren. Diese Weigerung trat manchmal aggressiv auf, manchmal klagend und war immer menschlich verständlich, ihm jedoch fremd â leider , hätte er auch sagen können. Paolo gelang es nicht, mit den anderen Angehörigen die Ãberzeugung zu teilen, dass für Unrecht und Gewalt nur dieser Staat verantwortlich sei, der ihre Liebsten gefangen hielt.
Im Gegensatz zu jenen hatte Paolo den Grund, weshalb sein Sohn gefangen war, stets gegenwärtig. Mehr noch, er trug ihn immer mit sich, in seiner Brieftasche: Das Foto von dem kleinen Mädchen in dem dunklen Mäntelchen passte auf, dass er ihn nie vergaÃ.
Jetzt wandte er sich wieder dem Gesicht der Frau zu, die in dem Jeep neben ihm saÃ.
Ein Sohn. Das ist schlimm.
So hatte sie es ausgedrückt. Und Paolo hatte gespürt, wie ihn eine Wärme überkam und sich über seinem Brustkorb verteilte. Warum, hätte er selbst nicht sagen können, oder vielleicht doch: In den letzten Jahren hatte er es durchaus erlebt, dass man Trost, Mitgefühl, auch den einen oder anderen Ratschlag für ihn übrig hatte â ja, es gab tatsächlich Menschen, die sogar einem Mann noch Ratschläge erteilten, dessen Frau gestorben war, weil sie sich aufgeben hatte, nachdem ihr Sohn zum Mörder geworden war. Aber noch niemand hatte es bisher geschafft, dass er sich auf eine so einfache, natürliche Weise verstanden fühlte.
»Ja«, sagte er jetzt, »das ist schlimm.«
Und dabei entfuhr ihm, wie so oft, einer dieser tiefen Seufzer, und er fühlte, wie der Druck auf seiner Brust schwächer wurde â wenngleich nur ein wenig. Auch das hatte er zuvor noch nie erlebt.
Ein Sohn. Das ist schlimm.
In der Tat, mehr war dazu wirklich nicht zu sagen.
Besuche im Gefängnis machte Luisa schon sehr viel länger als Paolo. Fast zehn Jahre waren mittlerweile seit jener Nacht vergangen, als drei Carabinieri ihr den Mann und alles, was sie über das Leben an seiner Seite zu wissen glaubte, weggenommen hatten. Er selbst hatte ihnen die Tür geöffnet. Auf die Frage, ob er die Person sei, deren Name der ranghöchste Carabiniere genannt hatte, antwortete er:
»Ja.«
Dann griff er zu seinem Mantel, zog ihn über und streckte die Arme für die Handschellen aus. Kein Blick, kein Wort â der Erklärung, des Trostes, der Entschuldigung, der Wut, irgendein Wort â für sie, die ihm mit halb offenem Mund zusah, während die vom Schlafen geschwollenen Augenlider wie Vögel im Käfig flatterten. Dann war er fort, und mit ihm die drei Männer in Uniform â verschwunden wie ein böser Traum, durch die Tür hinaus, die niemand hinter ihnen schloss. Starr vor Kälte, die von der verschneiten Tenne hereinzog, stand Luisa da und dachte bloÃ, dass es sich bei dieser Szene nur um einen Albtraum handeln konnte. Offenbar war sie zur Schlafwandlerin geworden, wie ja auch die Tatsache, dass der Körper ihr nicht mehr gehorchen wollte, bewies.
Als sie sich endlich wieder bewegen konnte, ging sie in die Küche hinüber und setzte sich an den Küchentisch. Gedankenverloren fuhr sie mit den Fingern die Maserung der Tannenholzplatte nach, und irgendwann begann sie, die Adern zu zählen. Das war gar nicht so leicht: Die Linien waren dünn und schwer voneinander zu unterscheiden. Sie musste ihnen mit dem Zeigefinger folgen, um nicht den Faden zu verlieren und die Zählung immer wieder von vorn beginnen zu müssen. Nach einer Weile dachte sie sich ein System aus: Bei allen Vielfachen von zehn angekommen, wartete sie einen Moment, bevor sie weiterzählte. Viele Stunden lang gab es nichts anderes mehr für sie, als diesen Tisch, die Maserung im Holz und die Zahlen, die ihr über die halb geschlossenen Lippen kamen.
Das Haus lag eingebettet in friedlicher Ruhe. Die Kindern schlieÃen, die Verhaftung ihres Vaters war so rasch und reibungslos vor sich gegangen, dass keines der fünf davon aufgewacht war.
Einige Tage nach der Verhaftung bestellten die Carabinieri Luisa auf die Wache. Sie wollten sich ein genaueres Bild davon machen,
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