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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jandy Nelson
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braucht, an der Wand zu finden wären. Nach einer Weile sagt sie: »Deine Mutter war ein verantwortungsloser Wirbelwind von einer Frau. Doch es ist auch wahr, dass sie nicht der erste Wirbelwind war, der durch diese Familie gefegt ist, und nicht die Erste, die auf diese Art verschwunden ist. Sylvie kam in diesem verbeulten gelben Cadillac wieder zurück in die Stadt, nachdem sie sich zwanzig Jahre lang herumgetrieben hatte. Zwanzig Jahre!« Sie schlägt die Faust auf den Tisch, heftig, die Haufen Sturmhöhe machen einen Satz. »Ja, vielleicht hätte ein Arzt einen Namen dafür oder eine Diagnose, aber was spielt es schon für eine Rolle, wie wir es nennen, es bleibt, was es ist, und wir nennen das Rastlosigkeits-Gen, na und? Ist genauso wahr wie alles andere.«
    Sie nimmt einen Schluck von ihrem Tee, verbrennt sich die Zunge. »Au«, macht sie ganz untypisch und fächelt sich Luft in den Mund.
    »Big denkt, du hast es auch«, sage ich. »Das Rastlosigkeits-Gen.« Auf dem Tisch stelle ich die Wörter zu neuen Sätzen um. Ich schaue zu ihr hoch, weil die Stille mich befürchten lässt, dass dies zuzugeben nicht allzu gut rüberkommt.
    Ihre Stirn ist gerunzelt. »Das hat er gesagt?« Grama hat
sich mir angeschlossen, sie schiebt nun auch Wörter auf dem Tisch herum. Unter dem gütigen Himmel legt sie neben ewig verschlossen .
    »Er glaubt, du hältst das nur unter Verschluss«, sage ich.
    Sie hört auf, Wörter zu verschieben. In ihrem Gesicht zeigt sich etwas sehr Ungramatypisches, etwas Unstetes, Ausweichendes. Sie mag mir nicht in die Augen schauen, und dann erkenne ich, was es ist, denn in letzter Zeit hab ich das recht gut kennenlernen können – es ist Scham.
    »Was ist, Grama?«
    Sie presst die Lippen so fest aufeinander, dass sie weiß werden, sie will sie anscheinend versiegeln, damit auch ja kein Wort drüberkommt.
    »Was ist?«
    Sie steht auf, geht zum Küchentresen, stützt sich darauf und schaut aus dem Fenster auf ein Königreich vorüberziehender Wolken. Ich behalte ihren Rücken im Auge und warte. »Ich habe mich in dieser Geschichte versteckt, Lennie, und ihr Mädchen – und auch Big – habt euch mit mir darin verstecken müssen.«
    »Aber eben hast du gesagt -«
    »Ich weiß – nicht, dass es nicht wahr wäre, aber es ist auch wahr, dass es verdammt viel einfacher ist, die Schuld beim Schicksal oder in den Genen zu suchen als bei mir selbst.«
    »Bei dir?«
    Sie nickt, sonst sagt sie nichts weiter, sondern starrt einfach nur zum Fenster hinaus.
    Kälte kriecht mir das Rückgrat hoch. »Grama?«

    Sie hat sich von mir abgewendet, ich kann ihren Gesichtsausdruck nicht sehen. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe Angst vor ihr, es ist, als wäre sie in die Haut einer anderen geschlüpft. Sogar ihre Körperhaltung ist anders, irgendwie schrumpelig. Als sie endlich etwas sagt, ist ihre Stimme zu tief und ruhig. »Ich erinnere mich noch an jede Einzelheit dieses Abends …«, sagt sie und hält dann inne. Ich überlege mir, ob ich nicht weglaufen soll, weg von dieser schrumpeligen Grama, die spricht wie in Trance. »Ich weiß noch, wie kalt es war, viel zu kalt für die Jahreszeit, und dass die Küche voller Lilien war. Ich hatte an diesem Tag alle Vasen gefüllt, weil sie vorbeikommen wollte.« Jetzt lächelt Grama, ich höre es an ihrer Stimme, und ich entspanne mich ein wenig. »Sie trug so ein langes grünes Kleid, eher so was wie ein riesiger Schal, völlig unpassend, typisch Paige – es war immer so, als hätte sie ihr eigenes Wetter dabei.« Das hier habe ich noch nie über meine Mutter gehört, nie hab ich auch nur ein Wort über so was Echtes wie ein grünes Kleid gehört oder eine Küche voller Lilien. »Sie war so unruhig an diesem Abend, sie lief immer in der Küche auf und ab, nein, sie lief nicht, sie wehte hin und her in diesem Schal. Ich erinnere mich noch, dass ich dachte, sie ist wie gefangener Wind, ein wilder Sturm, der hier in der Küche mit mir eingesperrt ist, wenn ich ein Fenster aufmachen würde, wäre sie weg.«
    Grama dreht sich zu mir um, als ob ihr endlich eingefallen wäre, dass ich da bin. »Deine Mutter war am Ende ihrer Fahnenstange angelangt und ihre Fahnenstange war nie besonders lang gewesen. Sie war übers Wochenende gekommen,
damit ich euch Mädchen sehen konnte. Wenigstens dachte ich, das wäre der Grund, bis sie dann anfing zu fragen, was ich tun würde, wenn sie wegginge. ›Weggehen?‹, hab ich gesagt. ›Wohin? Für wie lange?‹ Und da hab ich dann

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