Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
haben . In der Küche soll sie sein, bei Lennie und mir. Am Fluss soll sie sein mit Toby und ihrem Kind. Ich will, dass sie Julia ist und Lady Macbeth, ihr dummen, dummen Leute. Bailey will weder in meinem Herzen noch in irgendeinem anderen gefangen sein.« Grama haut mit der Faust auf den Tisch. Ich drücke mit den Händen zu und nicke, Ja , und fühle, Ja , ein riesiges, pulsierendes, wütendes Ja , das von ihr zu mir geht. Ich schaue auf unsere Hände und mein Blick fällt auf Sturmhöhe , das da still und hilflos und störrisch wie
eh und je liegt. Ich denke an all die vergeudeten Leben, all die vergeudete Liebe, die sich da ballt.
»Grama, tu es.«
»Was? Was soll ich tun?«, fragt sie.
Ich nehme das Buch und die Gartenschere und halte sie ihr hin. »Mach’s einfach, hack es in Stücke. Hier.« Finger und Daumen gleiten in den Griff der Gartenschere, genau wie heute Morgen, aber dieses Mal empfinde ich keine Angst, nur dieses wilde, pulsierende, total angepisste Ja rast in mir, als ich einen Schnitt in das Buch mache, in dem ich angestrichen und Notizen gemacht habe, ein Buch, das von den Jahren mit mir zerknickt und verschmutzt ist, Jahre von Flusswasser und Sommersonne und Sand vom Strand, Schweiß von den Handflächen, ein Buch, das sich den Kurven meines wachen und schlafenden Körpers angepasst hat. Ich mache noch einen Schnitt, schneide durch einen dicken Batzen Papier, durch all die winzigen Wörter, schneide die leidenschaftliche, hoffnungslose Geschichte in Stücke, schlitze ihr Leben auf, ihre unmögliche Liebe, ihr ganzes Chaos und ihre Tragödie. Jetzt gehe ich zum Angriff über, genieße das Geräusch der Schneiden, das metallische Kratzen nach jedem herrlichen Schnitt. Ich zerschneide Heathcliff, den armen, liebeskranken, verbitterten Heathcliff und die dumme Cathy wegen der schlechten Wahl, die sie getroffen hat, und der unverzeihlichen Kompromisse. Und wo ich gerade dabei bin, bekommt Joes Eifersucht, Wut und Verurteilung auch gleich etwas mit und seine schwachköpfige Unfähigkeit zu vergeben. Ich hacke auf diesen lächerlichen Alles-oder-nichts-Hornisten-Blödsinn ein, und dann mache
ich mich über meine Doppelzüngigkeit, meine Täuschungsmanöver, das Chaos, den Schmerz und mein schlechtes Urteilsvermögen und meinen überwältigenden, nie endenden Kummer her. Ich schneide immer weiter auf alles mir in den Sinn Kommende ein, das Joe und mich davon abhält, diese wunderbare große Liebe zu leben, solange wir das können.
Grama hat Stielaugen und bekommt den Mund nicht zu. Aber dann findet ein schwaches Lächeln ihre Lippen. Sie sagt: »So, lass mich mal.« Und dann nimmt sie die Schere und fängt an zu schneiden, zögerlich zuerst, doch dann wird sie genauso mitgerissen wie ich zuvor und hackt auf ganze Bündel von Seiten ein, bis die Wörter um uns herumfliegen wie Konfetti.
Grama lacht. »Nun, das kam unerwartet.« Wir sind beide außer Atem, erschöpft und lächeln benommen.
»Ich bin mit dir verwandt – oder nicht?«, sage ich.
»O, Lennie, du hast mir gefehlt.« Sie zieht mich auf ihren Schoß wie eine Fünfjährige. Ich glaube, sie hat mir verziehen.
»Tut mir leid, dass ich dich angebrüllt hab, kleine Wicke«, sagt sie und zieht mich in ihre Wärme.
Ich drücke sie zur Antwort. »Soll ich uns Tee machen?«, frage ich.
»Ist wohl besser, wir haben so viel nachzuholen. Aber der Reihe nach: Du hast meinen ganzen Garten verwüstet und ich muss wissen, ob es funktioniert hat.«
Wieder höre ich: Ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, der seiner Schwester so was antut , und mein Herz krampft
sich so fest in der Brust zusammen, dass ich kaum noch Luft kriege. »Keine Chance. Es ist vorbei.«
Grama sagt leise: »Ich hab gesehen, was an diesem Abend passiert ist.« Da verkrampfe ich mich noch mehr, rutsche von ihrem Schoß und gehe den Wasserkessel füllen. Ich hatte ja schon vermutet, dass Grama gesehen hat, wie Toby und ich uns geküsst haben, aber die tatsächliche Gewissheit lässt Schamwellen in mir hochschwappen. Ich kann sie nicht ansehen. »Lennie?« Ihr Ton ist nicht anklagend. Ich entspanne mich ein wenig. »Hör mir mal zu.«
Ich drehe mich langsam um und sehe sie an.
Sie wedelt mit der Hand um den Kopf herum, als wollte sie eine Fliege verscheuchen. »Ich will nicht leugnen, dass es mich für ein oder zwei Minuten sprachlos gemacht hat.« Sie lächelt. »Aber so verrückte Dinge passieren nun mal, wenn Menschen so geschockt und vom Kummer gebeutelt sind. Ich
Weitere Kostenlose Bücher