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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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war auf dem Weg zu Carelli, als mein Blick durch die gläserne Eingangstür auf die Straße fiel. Ich erkannte die Frau, die sich vorletzte Nacht in die Männerabteilung verirrt hatte. Sie lehnte am Zaun vor dem Heim, trug lediglich ein kurzes Nachthemd, das hinten offen war. Ihre weißen Haare standen in alle Richtungen. Ich näherte mich ihr langsam, um sie nicht zu erschrecken. Sie bewegte ihre Lippen, ich konnte aber im Morgenverkehr nicht verstehen, was sie sagte.
    Der Frotteestoff ihrer Hausschuhe wies dunkle Flecken auf; wahrscheinlich Kaffee. Die Reiskörner waren verschwunden.
    Â«Kommen Sie», sagte ich, doch sie hielt sich mit beidenHänden am Zaun fest. Es sah aus, als hätten sich ihre Finger im Maschendraht verfangen; ich versuchte, sie einzeln aus den Drahtkaros herauszulösen. Kaum hatte ich ihre rechte Hand befreit und machte mich an ihrer linken zu schaffen, nutzte sie die freie Hand, um sich wieder festzukrallen.
    Â«Nun kommen Sie schon.» In einem der Fenster stand Mancini und beobachtete uns. Ich winkte nach ihm, konnte aber nicht erkennen, ob er mein Zeichen verstanden hatte. Das Personal wusch um diese Zeit die Pflegefälle, deren Zimmer nach Süden ausgerichtet waren. Laut zu rufen wäre zwecklos gewesen, zumal sich das einzige Fenster, das einen Spaltbreit offen war, im dritten Stock befand.
    Â«Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause», sagte ich nahe am Ohr der Frau. An den Schläfen war das Haar von Schweiß verklebt. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf alles, was sich besonders laut bewegte.
    Â«Ich fahre mit Ihnen in die Via Nomentana», log ich und riß an ihren Armen. Sie wippte ein wenig vor und zurück, ließ aber nicht los. Fasziniert schaute sie einem Sattelschlepper hinterher, der mit Dachziegeln beladen war.
    Ich wurde ungeduldig, packte sie an den Handgelenken. Die Haut ihrer Arme war trocken, stellenweise schuppte sie. Die Frau rührte sich nicht von der Stelle.
    Â«Seien Sie vernünftig», sagte ich, «wenn Sie gewaschen und angezogen sind, fahren wir in die Via Nomentana. Haben Sie Kinder?»
    Die Frau ignorierte mich. Ich glaubte sogar, in den leicht zusammengekniffenen Augen Verachtung für mich zu erkennen. Je aggressiver ich sie anfaßte, desto starrer wurde sie. Hilfesuchend blickte ich die Fassade hoch, bis auf das eine Fenster waren noch immer alle geschlossen.
    Da trat Mancini auf die Straße.
    Â«Holen Sie die Schwester oder den Gärtner», sagte ich.«Nein, bleiben Sie da. Wer weiß, wie lange es dauert, bis Sie jemanden finden.»
    Â«Das macht drei Zigaretten», sagte er.
    Â«Darüber sprechen wir später. Versuchen Sie ihre Hand da rauszukriegen. Aber passen Sie auf, daß Sie ihr nicht weh tun.»
    Â«Drei Zigaretten.»
    Â«Ich lass’ mich von Ihnen nicht erpressen, Herr Mancini.»
    Â«Okay, okay.»
    Â«Gehen Sie lieber, bevor ich wütend werde.»
    Die Kraft der Frau mußte etwas nachgelassen haben, denn als ich erneut an ihren Armen zog, ließ sie plötzlich los. Beinahe wären wir beide zu Boden gestürzt. Der Zaun federte vor und zurück.
    Mancini ging auf den Eingang zu. Ich zerrte die Frau hinter mir her. Wir kamen nur langsam voran. Drinnen warteten sechs Männer, die gewaschen werden wollten, und ich war hier draußen mit einer Frau beschäftigt, die nicht zu meiner Abteilung gehörte.
    Â«Mir fällt ein Stein vom Herzen.» Es war die Schwester von vorletzter Nacht, die auf uns zugelaufen kam. «Ich hab’ sie überall gesucht.»
    Â«Sie müssen sie anbinden oder einsperren, wie oft soll ich Ihnen das noch sagen.»
    Â«Aber – ich – ich kann doch nicht – ich kann sie doch nicht anbinden.»
    Â«Dann lassen Sie sich etwas anderes einfallen», sagte ich, «bevor ihr etwas zustößt.» Ich dachte daran, daß ich mich selbst anfangs geweigert hatte, Gurte zu akzeptieren. Wer sich gewaltsam daraus zu befreien versucht, riskiert Quetschungen und Nervenverletzungen, sogar von Strangulationen hatte ich schon gehört. Doch seit eine Frau abgehauen und in ein Auto gelaufen war, was die Angehörigen zu einer Anzeige veranlaßthatte, war ich vorsichtig geworden. Wir hatten weder Hüftschutzhosen, die Oberschenkelhalsbrüche verhinderten, noch besaßen wir Sensormatten, die in der Schwesternküche signalisierten, daß ein Demenzkranker aufsteht und sein Zimmer verläßt. Und die

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