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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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erkannte man, was zu tun war?»
    Â«Das frage ich mich auch gerade. Wahrscheinlich haben sie es deswegen irgendwann vorgezogen, den heiligen Hühnern beim Fressen zuzusehen; das war weniger umständlich. Wenn ihnen vor lauter Gier das Futter aus den Schnäbeln fiel, war das ein günstiges Zeichen. Ich kann mir vorstellen, daß sie die Hühner absichtlich haben hungern lassen, damit sie dann besonders gierig waren.» Vittorio sah mich an. «Du hattestDienst, das habe ich ganz vergessen. Entschuldige. Gehen wir.»
    Neben uns standen zwei alte Männer; einer zog an seiner Zigarette, als habe er kaum Zeit, sie zu Ende zu rauchen. Ich hielt nach einer älteren Dame Ausschau, seiner Ehefrau, vor der er vielleicht hier herauf geflüchtet war, aber ich entdeckte keine, die zu ihm gepaßt hätte. Auf den Treppen saßen Jugendliche und spielten Karten; unten, auf dem Platz, lief eine japanische Reisegruppe einem gelben Schirm hinterher.
    Â«Die Steineichen vor dem Bahnhof sind ja regelrecht zugeschissen», sagte der zweite Alte und schüttelte den Kopf, «das gab es doch früher nicht. Und nichts hilft dagegen. Gar nichts. Nicht einmal die Warnrufe aus den Boxen haben geholfen.»
    Â«Was für Warnrufe?» hörte ich den ersten.
    Â«Na, irgendwelcher Feinde, was weiß ich. Wer sind die natürlichen Feinde? Du kommst doch vom Land, nicht ich.»
    Vittorio fragte mich, wie die Nacht gewesen war. Er hatte sich eingehängt, umfaßte mit seiner Hand meinen Oberarm, drückte ihn; das verunsicherte mich. Erst als wir die Villa Borghese erreichten, ließ er mich los. Ich sah ihn erstaunt an, doch er erwiderte meinen Blick nicht. Wir gingen schweigend zum Ausgang. Auf der Straße erzählte er, seine Mutter habe angerufen, die Klimaanlage sei ausgefallen. «Ich muß wohl noch einmal kurz hin.»
    Â«Sie findet immer einen Grund», sagte ich.
    Â«Es dauert nicht lange. Außerdem kommt Mauro vorbei.»
    Ich blieb stehen. «Wir wollten doch heute den Tag allein verbringen.»
    Â«Ja, aber du hattest doch Dienst. Dann gehst du meistens früher schlafen. Da dachte ich – und Mauro magst du doch.» Vittorio war nun ebenfalls stehengeblieben und wartete, daßich weiterging. Er kickte mit der Fußspitze eine Zigarettenschachtel vom Gehsteig.
    Â«Komm», sagte er mit fester Stimme, «wir haben das nächste Wochenende für uns.» Er streckte mir den linken Arm entgegen. Als ich nach seiner Hand griff, war sie schlaff.
    Â«Dann wird bei deiner Mutter der Kühlschrank ausfallen, das Backrohr explodieren oder der Schlauch zur Waschmaschine reißen.»
    Zu Hause klebte Vittorio noch schnell ein paar Photos in die Kundenmappe, bevor er zu seiner Mutter fuhr. Es waren Abbildungen von neu erworbenen Stühlen, Tischen und Lampen, die er in einer heruntergekommenen Halle in Testaccio eingelagert hatte. Fünfzehn Jahre suchte er nun schon nach alten Designermöbeln, pflegte enge Kontakte mit Entrümpelungsfirmen, kaufte, was sich als brauchbar erwies, manchmal auch Kopien bekannter Möbelstücke, die in gutem Zustand waren, reinigte und entstaubte die Ware, bevor er sie in seinem Geschäft zum Verkauf anbot. Was nicht in dem Siebzigquadratmeterladen Platz fand, führte er in seiner Mappe alphabetisch nach Designern geordnet.
    Angefangen hatte seine Leidenschaft zufällig: Er war auf dem Weg zu seinem Cousin in einer Seitenstraße auf Arne-Jacobsen-Stühle gestoßen, ohne zu wissen, daß es sich um solche handelte. Es war der Tag, an dem Enrico Berlinguer begraben wurde und alle seine Freunde Schwarz trugen. Eineinhalb Millionen Menschen hatten dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei die letzte Ehre erwiesen. Die zwei Sperrmüllstühle mit dem geformten Schichtholz waren fortan Vittorios Begleiter, obwohl die Untergestelle aus Stahlrohr Rostflecken aufwiesen. «Ich hatte es im Gefühl, daß sie etwas Besonderes waren», erzählte er jedesmal, wenn man ihn fragte, warum er Möbelhändler geworden sei. Ein Jahr später entdeckte er dieSerie 7, zu der auch seine Exemplare gehörten, in einem Katalog und erfuhr, daß Jacobsen damit auf der Mailänder Triennale den Grand Prix gewonnen hatte. Das war 1957 gewesen, im Jahr seiner Geburt. «Man kann sich auf den Zufall verlassen», schrieb er zur Geschäftseröffnung auf die Einladungskarte. Den Jacobsen-Stuhl nannte er fortan seinen

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