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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Psychopharmaka wirkten oft nicht ausreichend.
    Ich drehte mich um und eilte zu Carelli.
    Im Zimmer roch es nach aufgebrauchter Nachtluft und Urin. Ich öffnete das Fenster, ließ warmes Wasser in die Waschschüssel rinnen. Carelli hatte sich die Kopfhörer übergestülpt und nahm mich nicht wahr. Bevor ich ihn zu waschen begann, tippte ich auf seinen Arm.
    Â«Machen Sie nur», sagte er, blickte mich kurz an und schloß wieder die Augen.
    Ich fuhr mit dem Waschlappen zwischen seine Beine, versuchte die Oberschenkel etwas auseinanderzudrücken, aber sie waren steif wie Bretter. Es wird immer schlimmer, dachte ich, als ich ihn wusch. Meine Hand blieb zwischen seinen Beinen stecken; von Monat zu Monat verhärteten sich die Gliedmaßen mehr, blieben selbst in der Liegeposition angewinkelt, als säße Carelli nicht nur tagsüber, sondern auch nachts im Rollstuhl.
    Â«Darf ich Sie etwas fragen?» Carelli nahm die Kopfhörer ab, griff etwas unbeholfen nach dem Handtuch, das auf dem Bettrand bereitlag, und reichte es mir zum Nachtrocknen.
    Â«Nichts Unanständiges», sagte ich.
    Â«Gibt es einen besonderen Grund, warum mich Marta gestern nicht mehr gewaschen hat?»
    Â«Nicht, daß ich wüßte. Sie haben sie doch nicht belästigt?»
    Â«Hat Sie Ihnen etwas erzählt?» Er griff nach meinem Unterarm, wartete auf meine Antwort.
    Â«Nein. Nur, daß Sie noch zu waschen sind. Warum?»
    Â«Dann ist es gut.»
    Er hörte mit geschlossenen Augen Musik. Ich straffte das Leintuch unter seinem gekrümmten Körper, bezog die Kissen neu und steckte die schmutzige Wäsche in die Stoffsäcke.
    Â«Es tut mir leid, daß ich Sie angefaßt habe.» Während er diesen Satz formulierte, hielt er die Augen geschlossen, drehte aber am Lautstärkeregler seines Walkmans, um zu hören, was ich sagte.
    Â«Auch wenn sich da unten nichts mehr tut, habe ich noch immer einen Kopf, verstehen Sie?» Jetzt schaute er mich an. «Ich will nicht, daß Sie sich aus Mitleid mein Gegrapsche gefallen lassen. Einem andern hätten Sie gewiß eine Ohrfeige verpaßt. Stimmt’s?»
    Wenn mich nur einmal wieder einer anfaßte, von dem ich möchte, daß er mich anfaßt, dachte ich. Ich zog die Wäschesäcke hinter mir her und ging zur Tür. «Möglich», sagte ich.
    Â«Bitte gehen Sie noch nicht. Ich –», er beugte sich vor, um mich im Auge zu behalten, «– ich wollte Sie um einen Gefallen bitten.» Der Walkman rutschte vom Bett und baumelte über dem Fußboden. Als er ihn zu sich heraufziehen wollte, hielt er nur noch das Kabel in der Hand.
    Â«Und das wäre?»
    Â«Ich habe niemanden, den ich darum bitten könnte. Sie kennen ja meine Schwester, die ist so katholisch, daß – danke.» Ich reichte ihm den Walkman.
    Â«Daß?»
    Er mühte sich ab.
    Â«Daß ich sie nicht bitten kann, mir ein paar Pornohefte zu besorgen.»
    Â«Das – das kann ich nicht. Wie stellen Sie sich das vor?»
    Â«Dann bitten Sie doch Ihren Mann. Der hat sicher welche.» Carelli lächelte und beobachtete gleichzeitig sehr genau, wie ich reagierte. Als er merkte, daß ich den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: «War nur eine Idee.»

IV
    Kaum war Irma wach, nickte sie wieder ein; die Gedanken verloren sich, die Sätze verstummten traumwärts, waren unhörbar für die Schwestern und Pfleger, unwiederholbar für sie selbst. Wenn sie nach wenigen Minuten, oft schon nach zwanzig, dreißig Sekunden, wieder die Augen öffnete, wenn der Schmerz von allen Seiten an ihr zerrte, wußte sie, daß sie aufgewacht war und lebte. Sie faßte sich, bewegte die Zehen, die Finger, die Augenlider, rümpfte die Nase. Nichts wünschte sie sich mehr, als von der Ärztin zu erfahren, daß die Niere funktionierte, daß sie nun frei sei und tun und lassen könne, was sie wolle. Die Ärztin war nicht in der Nähe, und Irmas Stimme versagte, sobald jemand an ihrem Bett vorüberging.
    Die Uhr über dem verchromten Waschbecken zeigte fünf Uhr zwanzig. Irma wußte nicht, welchen Traumspuren sie folgen sollte. Nirgendwo waren festgetretene Pfade, welche die Entscheidung erleichtert hätten. Als sie das nächste Mal erwachte und einen Blick auf die Uhr warf, war es nach acht. Es gelang ihr, Zunge und Lippen etwas länger zu bewegen, Kraft zu bündeln, doch keiner von den sie umgebenden Menschen

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