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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Handy war ausgeschaltet. Sie versuchte es unter der Festnetznummer – endlich ein verschlafenes «Wer spricht?»
    Â«Ist Richard bei dir?»
    Â«Nein. Vielleicht in seinem Zimmer. Ist etwas passiert?» fragte Davide.
    Â«Das Krankenhaus hat angerufen. Ich krieg’ eine Niere.» Irma hörte, wie Davide aufstand, das Sternparkett knarrte unter seinen Füßen.
    Â«Das ist – das ist großartig», sagte Davide. «Hast du es auf seinem Handy probiert?»
    Â«Es ist ausgeschaltet.»
    Â«Schon wieder.» Davides Stimme war leise. Irma hörte, wie er seufzte. «In seinem Zimmer ist er nicht.»
    Â«Kannst du Florian übernehmen?»
    Â«Ich komme gleich», sagte Davide.
    Gleich
, dachte Irma noch, ist der Weg durch zwei Bezirke. Sie zog sich wieder aus, stellte sich unter die Dusche.
    Vor ein paar Jahren war jeder Klingelton noch ein anderes Stück Hoffnung gewesen. Aber von Florians Vater hatte Irma nichts mehr gehört. Sie hatte ihn angerufen, gewartet, ausgeharrt, hatte es klingeln lassen, bis aus dem Freizeichen ein Besetztzeichen geworden war. Wochen, Monate hatte Irma Rino hinterhertelephoniert – am anderen Ende der Leitung war es still geblieben.
    Je länger sie in den Hörer hineingehorcht hatte, desto schneller waren die Erinnerungen an seine Wohnung in Romverblaßt; all die kleinen Details wie der Globe-Sessel am Fenster oder die Hängelampe aus Milchglas, die sie sich ins Gedächtnis gerufen hatte, um sich die Zeit des Wartens zu vertreiben, waren irgendwann nicht mehr abrufbar gewesen. Formen und Farben hatten nicht mehr gestimmt. Von seinem Sohn hatte Rino nie erfahren. Er würde auch nicht von Irmas Glück erfahren und schon gar nicht vom Unglück eines Fremden, dessen Niere in einem Styroporkasten, verpackt in Plastik und Eis, auf sie wartete.
    Irma drehte das Wasser ab, der Duschkopf entglitt ihrer Hand, schlug gegen das Knie. Sie konnte kaum noch stehen, hatte Mühe, sich abzutrocknen, ins Kleid zu steigen.
    Die Kusine fiel ihr ein; sie hatten sich mehrmals gestritten. Obwohl Greta Krankenschwester war, schienen ihr die Argumente der Transplantationsgegner vertrauter als jene Irmas. Was den Tod ausmache, das könnten eben nicht die Ärzte entscheiden, hatte Greta gesagt und Irma vorgeworfen, sie würde den Tod immer nur vom eigenen Leben aus betrachten, immer nur als ihr eigenes Ende, nie als Übergang. Es gäbe keine Gewißheit, keine klare Trennungslinie zwischen Noch-Leben und Schon-gestorben-Sein. Die einzige Gewißheit sei Gott. Greta hatte gut reden. Sie war nie krank gewesen, klagte über gelegentliches Zahnfleischbluten. Die beiden waren sich seither nicht mehr begegnet.
    Florian schlief ruhig. Als Irma ihn zudeckte und seine Wange küßte, drehte er sich auf den Bauch. «Nächsten Sommer werden wir zwei wieder ans Meer fahren», sagte Irma leise. Sie setzte die Stofftiere ans untere Bettende und eilte zum Fenster, damit sie Davide rechtzeitig abfangen konnte und er nicht klingeln mußte. Irma drückte die Stirn gegen die Scheibe. Das Glas war angenehm kühl. Ihre Hände lagen auf dem Bauch, der sich immer wieder zusammenzog.
    Â«Nein, das ist nicht wahr. Onkel Alfred lebt nicht mehr»,hörte Irma die Mutter sagen. Alfred war ihr einziger Bruder gewesen, eine Art Familienersatz, nachdem der Vater im Juli 1941 an der Murmanskfront gefallen war. Irma sah ihre Mutter vor sich, mit hängenden Schultern; sie hatte den Hörer noch in der Hand gehabt, als das Gespräch längst zu Ende gewesen war, hatte an ihrem Nachthemd genestelt, Richard war von der Kommode gerutscht.
    Da draußen, dachte Irma, ist jetzt auch wer tot.
    Sie fuhr am Hochhaus der UNIQA vorbei, an der Urania, dem Regierungsgebäude mit dem bombastischen Doppeladler. Irma betrachtete alles wie zum letzten Mal: die Reiterstatue des Feldmarschalls Radetzky vor dem Haupteingang des ehemaligen Kriegsministeriums, die Postsparkasse, deren Fassade mit ihren Nieten an den Granit- und Marmorplatten an eine überdimensionale Geldkiste erinnerte. Irma faßte nach der Tasche, nach den Schlaufen, hielt weiter Ausschau nach Gewohntem, Heimischem, aber die vom Ring abgehenden, im Halbdunkel liegenden Straßen und Gassen sahen aus wie überall um diese Zeit, blaß und leer.
    Â«Bleiben Sie bei den Fakten; hier bei uns werden Sie nichts anderes erfahren», hatte Irmas Ärztin einmal gesagt.
    Als Richard

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