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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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zurückrief, bog das Taxi bereits in die Alserstraße ein, nahm Kurs auf den Gürtel. Richard sagte, er könne nicht verstehen, warum Irma die Eltern nicht benachrichtigt habe.
    Â«Soll ich sie etwa beunruhigen und dann wird nichts draus?» sagte Irma. «Du bist sauer, weil Davide es zuerst erfahren hat. Ein Glück, daß er dich doch noch erreicht hat. Sag mal, wo bist du eigentlich?»
    Richard schwieg.
    Â«Reißt euch vor Florian zusammen.»
    Â«Hast du jetzt keine anderen Sorgen», sagte Richard.Irma dachte an den Toten, an den irreversiblen Ausfall der Hirnfunktionen. War er auch wirklich tot? Oder lag er nur unumkehrbar im Sterben, hatte gar noch elementare Empfindungen? «Das ist ausgeschlossen», hatte Irmas Ärztin gesagt, «die Lebensmerkmale eines Lebewesens entstehen alle durch die Tätigkeit des Gehirns. Fällt das Gehirn aus, ist da nichts mehr.» Nur ein warmer Körper mit schlagendem Herzen, war Irma damals eingefallen, aber sie hatte geschwiegen, denn ihr war klar gewesen, was die Ärztin sagen würde: Der spontane Atemimpuls wird apparativ ersetzt; auf diese Weise gelangt Sauerstoff in die Lunge, und die Stoffwechselprozesse können weitergehen. Blutdruck und Herzfrequenz werden medikamentös beeinflußt, damit die Blutversorgung des gesamten Körpers gewährleistet wird.
    Und die Bewegungen? Hatte Greta nicht erzählt, daß sich die Hirntoten noch bewegen würden? Waren es tatsächlich nur reflexartige Zuckungen, die über das Rückenmark gesteuert werden?
    Als Irma aus dem Taxi stieg, atmete sie durch. Das ist die letzte Frischluft für lange Zeit, sagte sie sich, der letzte Blick in den Himmel. Irma fand keinen einzigen Stern. Rachen und Zunge waren trocken, als hätte sie nur durch den Mund geatmet.
    Sie wurde an die Maschine angehängt; noch einmal wusch sie ihr Blut. Die Stiche in den linken Unterarm erschienen Irma wie Schlußpunkte. Die Nadeln spürte sie kaum, obwohl sie die Dicke von Stricknadeln hatten. In Gedanken war sie längst woanders, nahm ihr Diktaphon in die freie Hand und sprach leise: «Der Zufall und der Tod sind nicht unergründlich, sie haben gemeinsam diese beruhigende Regelmäßigkeit.»
    Hinter Irma surrte und piepste es; die vorerst letzte Dialyse fand aus Mangel an Geräten in der Intensivstation statt.
    Sie überlegte, nun doch die Eltern zu benachrichtigen, aber noch waren nicht alle Hürden genommen. Man hatte die Blutzellen des Toten mit ihrem Blutserum gemischt, um zu sehen, ob das Cross-match auch tatsächlich negativ war. Zerstörte Irmas Serum die Spenderzellen, mußte sie wieder nach Hause zurück; die Niere erhielt ein anderer.
    Es war ein Kommen und Gehen. Neben Irma lagen nur dürftig abgeschirmt zwei Intensivpatienten. Die Schwestern und Pfleger kontrollierten Blutdruck, Puls und Temperatur, verfolgten die Kurven auf den Geräten, notierten die Flüssigkeitsmengen in den Infusionsbeuteln.
    Â«Sie müssen nachher zum Röntgen», sagte eine der Schwestern, «Sie sind doch Frau Svetly?»
    Â«Ja», antwortete Irma und dachte: Noch bin ich Frau Svetly. Wie wird es sich anfühlen, wenn das Organ eines Toten in mir lebt?
    Â«Ich tue es für mich und für Florian», hatte Irma damals zu Greta gesagt. Das sei nur verständlich, hatte diese geantwortet, aber Irma solle zumindest klar sein, daß sie ihr Überleben einem fragwürdigen Tod verdankte. «Es widert mich an, daß das plötzliche Sterben, nein, nicht der plötzliche Tod, sondern das Sterben mehr und mehr zur sozialen Frage wird.
Ein Gesunder, der stirbt, sei verpflichtet, einem Kranken zu helfen
– das ist doch anmaßend», hatte Greta gesagt.
    Â«Du bist ja päpstlicher als der Papst», hatte Irma entgegnet. Sie wußte, daß die Kirche nichts gegen Transplantationen hatte, daß für sie der Körper nach dem Tod bedeutungslos war. Es galt, die Seele zu retten.
    Gretas Vorwürfe hatten Irma verletzt; sie war nicht auf diese Ablehnung vorbereitet gewesen. All die Freunde hatten ihr zugeredet, sich so bald wie möglich auf die Liste setzen zu lassen; auch der Großteil der Familienmitglieder war für eine Transplantation gewesen.
    Was ist schon individuell, dachte Irma. Wir sind in dieses große Ganze eingebunden und können uns kaum rühren. Florian ist ebenso ungeplant entstanden, wie mein Spender möglicherweise

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