Über Stock und Runenstein
Krankenhaus gebracht hat, und nicht irgendein Unbekannter,
der sich an seinem Motorrad zu schaffen gemacht hat. Hat Grace Porble zufällig
erwähnt, ob er schon Besuch empfangen darf?«
»Nein, aber ich kann im Krankenhaus
anrufen.«
»Das könntest du und wirst es
wahrscheinlich sogar, da du heute in dieser wundervollen karitativen Stimmung
bist. Aber du darfst trotzdem vorher zu Ende frühstücken. Ich wette, sie geben
sowieso keine Auskunft. Das tun sie meistens nicht.«
»Es handelt sich hier nicht um mein
Frühstück, sondern um mein Mittagessen, und ich habe schon genügend gegessen,
keine Sorge. Ich werde mir natürlich nur seine Zimmernummer geben lassen. Dann
kannst du schnurstracks zu ihm ins Zimmer gehen und brauchst nicht erst an der
Rezeption zu fragen und dir eine Abfuhr erteilen zu lassen. So mache ich es
jedenfalls immer.«
»Mein Gott, ihr Frauen seid richtig
skrupellos.«
»So ist es, mein Lieber. Noch etwas
Kaffee?«
»Nur eine halbe Tasse. Ich müßte schon
längst unterwegs sein. Eh, wolltest du nicht wegen der Zimmernummer anrufen?«
»Völlig ohne jeden Skrupel, mein
Liebling.«
Helen ging zum Telefon und kam kurz
darauf mit einem Zettel zurück, auf dem sie in ihrer Bibliothekarinnenschrift
fein säuberlich die Nummer aufnotiert hatte. »Bitte sehr. Ich habe sie
aufgeschrieben, damit du sie nicht vergißt. Bestell ihm viele Grüße von mir.
Hat er Angehörige, die sich um ihn kümmern können?«
»Gnädige Frau, Sie scherzen wohl! Seine
Mutter ist die Cousine von Mrs. Lomax’ verstorbenem Mann, der wiederum mit
Henny Horsefalls Großnichte verwandt war. Wenn ich mich recht erinnere, heißt
sie Bertha. Außerdem hat er zwei Brüder, die in einer Seifenfabrik arbeiten.
Wenn du also die Idee hattest, kurz im Krankenhaus vorbeizuschauen und einen
armen Waisenknaben zu trösten, kannst du diese Absicht getrost vergessen. Ich
vermute, die Verwandten sind bereits scharenweise angetreten und stehen
Schlange vor seiner Tür, vielleicht knobeln sie sogar gerade, wer zuerst ins
Zimmer und ihn trösten darf.«
»Ach du liebe Zeit! Dann bleibt mir
wohl nichts anderes übrig, als jetzt mit hängendem Kopf in die Sammlung Buggins
zu trotten. Wirst du zum Dinner zurück sein?«
»Bisher sehe ich keinen triftigen
Grund, der mich davon abhalten könnte. Bis dahin bin ich wahrscheinlich so
erledigt, daß du meiner armen Waisenstirn Kühlung fächeln kannst, wenn du noch
Lust dazu verspüren solltest.«
»Mein Herr, Ihre Freundlichkeit ist
einfach überwältigend.«
Helen gab ihm als Vorgeschmack einen
Kuß auf die Stirn. Dann spülten sie kurz das Geschirr mit klarem Wasser vor,
stellten es in den Geschirrspüler und verließen gemeinsam das Haus. Helen ging
den Hügel zur Bibliothek hoch, und Shandy überquerte die Straße, um nach Tim zu
sehen. Er fand seinen alten Freund noch am Frühstückstisch, während ihm seine
Schwiegertochter liebevoll Vorwürfe machte, weil er erst so spät heimgekehrt
war.
»Es ist alles Ihre Schuld, Professor
Shandy«, schmollte sie. »Sie haben ihn dazu verführt, und ich nehme an, das
haben Sie jetzt schon wieder vor. Was soll ich um Himmels willen nur mit euch
beiden anfangen?«
»Es wird Ihnen schon etwas einfallen,
davon bin ich überzeugt«, erwiderte Shandy. »Ich wollte ihm nur sagen — Tim,
stell das Ding bitte an, ja?«
Er tippte seinem Freund auf die
Schulter und zeigte auf Tims Hörgerät.
»Oh, entschuldige, Pete.«
»Daddy Ames«, rief Laurie, »soll das
etwa heißen, du hattest die ganze Zeit das Ding abgeschaltet, und ich habe ganz
umsonst geschimpft?«
»War sowieso reine Zeitverschwendung,
Liebes. Dir fehlt das richtige Temperament dazu. Schade, daß du nicht ein paar
Stunden bei deiner verstorbenen Schwiegermutter nehmen konntest. Das war eine
Frau, die wirklich die feine Kunst beherrschte, einen Mann die Wände
hochzutreiben. Was ist denn los, Pete?«
»Der junge Swope ist mit dem Motorrad
gestürzt. Offenbar kurz nachdem wir letzte Nacht die Horsefalls verlassen
haben. Er liegt jedenfalls im Allgemeinen Krankenhaus in Hoddersville. Ich habe
vor, schnell hinzufahren und Näheres über den Unfall herauszufinden. Willst du
mitkommen?«
»Eigentlich nicht. Ich wollte nämlich
noch zu den Horsefalls.«
»Roy und ich werden dich hinbringen«,
sagte Laurie. »Roy hat versprochen, uns nach der Beerdigung abzuholen, er müßte
also jeden Moment hier sein. Ich habe übrigens den Runenstein immer noch nicht
gesehen. Ich bin inzwischen bestimmt der
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