Ueberdog
hindurchstechenden Wangenknochen. Oder durch seine aufgeworfenen Lippen, auf denen immer Schaum stand in kleinen, knisternden Bläschen.
Ich sah, wie sein rechtes Knie zitterte; und ich stellte ihn mir auf Bühnen vor, im Thalia, der Schaubühne oder der Burg, in Mönchskutte oder Lumpenkittel, wie er, die Arme ausgebreitet, das Publikum fixierte, bis es unruhig wurde. Wie er dann die Arme fallen ließ und den Biologielehrer in der elften Reihe anschrie, der sich hinter seinem Programmheft verschanzte (»Geh raus, du Pisser«), um ihm dann durch die Reihen entgegenzuspringen und die Brille zu zerbrechen. Ich stellte ihn mir bei Dreharbeiten auf Neuguinea vor, wo er, angefüllt mit Aquavitund Weihwasser aus der Missionsstation, dem Regisseur an die Gurgel ging.
Wahrscheinlich hatte er sich dann, stellte ich mir vor, in einer ausgehöhlten Bananenstaude auf einem Frachter versteckt, bis er im Fruchthof von Hammerbrook ans Licht trat, auf der Straße stand und auf der Straße blieb.
Ich gewöhnte mich schnell an den Namen Uschi. Uschi, sagte ich zu mir, Uschi, Uschi, Uschi. Und bald begannen wir alle versöhnt zu rauchen, wie in den alten Filmen, als man noch den Hut in den Nacken schob, mit zusammengekniffenen Augen die Zigarette anzündete und sie auch beim Reden oder in der Badewanne nicht aus dem Mund nahm.
Die meiste Zeit aber warteten wir auf Schmiddel. Manchmal blieb Schmiddel ganze Tage weg. Mehr und mehr spürte ich, dass diese Tage ein Loch in mir aufrissen, das mich auslaugte und unruhig machte. Irgendwann kam er aber über den Hügel, stieg lautlos vom Bismarckdenkmal herab, schritt dann um den Grill, mit seiner ganzen verstörten Grazie.
Ich spürte sein Schweigen, die Unmöglichkeit, ihn kennenzulernen. Er ließ sich nicht beobachten, weil er selbst pausenlos beobachtete. Er ließ sich nicht anfassen, denn sein Kamelhaarmantel ließ nichts durch. Niemand wusste, ob er wach war oder schlief hinter seiner Sonnenbrille; er sah tot aus und unfassbar lebendig zugleich, wie die rätselhafte Katze des Physikers Schrödinger. Er war ein Spiegel, in dem sich jeder um jeden Preis spiegeln wollte; jeder wollte ihm etwas erzählen. Und auch ich stellte bald fest, dass ich, wenn ich mit ihm redete, im Grunde mit mir selbst sprach.
Doch immer spürte ich auch die harte, lichtundurchlässige Folie, die den Grund jedes Spiegels bildet. Ich stellte mir die Stellinger Sozialwohnung vor, in der er aufgewachsen sein konnte, die zwei Meter bis zur Tür, die zwei Meter bis zum Fenster. Ich stellte mir die Mutter vor, wie sie zierliche Nadeln in ein Püppchen bohrte: »Das wird dir noch leid tun, Chris.«
Dann die Abende allein auf dem Laminat mit den himbeerroten Flecken, allein mit Messer, Gabel, Schere, Licht. Die grobknochige Dame vom Jugendamt, begleitet von einem Polizisten und einer Krankenschwester. Das Kinderheim in Pinneberg, der Erzieher mit dem Kampferatem, dem trockenen Humor und den feuchten Händen, die Schmiddel manchmal nachts unter der Bettdecke am Steißbein spürte. Die Ausbrüche, zusammengekauert im letzten Wagen der S 3, verstohlen, doch mit ungebrochenem Stolz.
Ich stellte mir die Männer mit den dünnen Bärten und den dicken Uhren vor, die ihn auflasen bei seinen arglosen, traumverlorenen Streifzügen durch St. Pauli und St. Georg. Die ihn unter ihre Fittiche nahmen und nicht merkten, dass der Flügelschlag seiner Zukunft längst über ihnen schwebte wie Geierschwingen.
Ich stellte mir seine zahllosen Nächte vor zahllosen Türen vor, vor dem Torsten 3000 , dem Lüften , dem Tora Bora . Es gab keine Gnade, keine Diskussion; seine Arbeit im Crotch bescherte ihm den Ruf des härtesten Türstehers der Stadt. Wenn er Leben in den Gesichtern sah, hob er kaum merklich die rechte Augenbraue. Wer aber schon tot war, bekam einen Klecks Ölfarbe auf die Stirn, damit er nicht wagte, sich ein zweites Mal anzustellen. Manche schleuderten ihm Schimpfworte hinterher, mancheSteine. Schmiddel fand es nicht nötig, sich zu ducken, denn sie trafen natürlich nie.
Irgendwann, stellte ich mir vor, begann Schmiddel, die Eingelassenen zu zeichnen. Mit der spitzen, jedes Papier zerfetzenden Feder seines Schulfüllers zeichnete er auf Bierdeckel, auf die Rückseiten von Flyern, auf ehrfürchtig gespannte Rücken und Hinterbacken. Die Modelle durften ihre Porträts behalten. Und schließlich begann er wohl, fast überhaupt niemanden mehr einzulassen, nur noch vier, fünf Leute pro Nacht. Das waren die wenigen Leute,
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