Ueberdog
mein Blitz gab ihnen noch einmal ihren bleichen Schimmer zurück.
Ich spürte, dass etwas anders geworden war. Ob in der Welt oder in meinem Blick, war schwer zu entscheiden. Mitleidsvoll besah ich die dünnen Sohlen der Herrenschuhe; ich spürte den Drang, die Träger vor Erdnüssen zu warnen, vor verkanteten Zahnstochern, vor versteckten Kronkorken im Flor der Teppichböden.Besorgt spähte ich in Rückenausschnitte, in denen Schulterblätter spröde bebten wie Katzenknochen.
Ich verzog mich auf die Toilette. Der Strahl aus der Nachbarkabine klang dünn und spärlich. Dann stand ich in großer Ruhe vor dem Spiegel, überblickte die Armaturen aus Aluminium und Edelstahl, glänzende Instrumente für Operationen am offenen Herzen. Ich hielt die Kamera neben mich und drückte ab. Ich fotografierte meine blassblauen Augen, meine weich fallenden Haare, meine etwas zu schmalen Lippen, leicht geöffnet, als wollten sie mir etwas sagen. Ich fotografierte meine etwas zu dicke Nase; mir fiel auf, dass sie Ähnlichkeit mit einer Walnuss hatte. Als ich später die Fotos noch einmal ansah, erkannte ich in meinem Gesicht eine ungewohnte Härte. Im Nachhinein sah sie aus wie ein Entschluss.
Noch lange nach der Greystoke-Präsentation in der Elbphilharmonie dachte ich an Nina Löwitsch, an ihren triumphalen Aufbruch, an ihr zerrissenes, grandioses, zum Kotzen arrogantes Gefolge, und mein Unbehagen fand eine Gestalt. Ich dachte an Schmiddel alias Wotan alias Beriberi alias Linux alias Bang-Cock, der schon längst den Schritt beiseitegetreten war, auf die unsichtbare, flüchtige Überholspur, die neben den roten Teppichen entlanglief. Die den Stau der schweren Transporter links liegen ließ und über Felder führte, durch Brachland, über feuchte Wiesen, Talsperren und Gewerbegebiete, umspielt von Ratten, Rehen und Bahngleisen für Güterzüge. Ich dachte an seine Brücke; es war eine schöne Brücke. Mitten in der Stadt schmiegte sie sich zwischen grüne Hügel und ließ den Verkehr einfach durch sich durch.
Ich dachte an die Fäden, die er von dieser Brücke aus spann, von der Sinfonie in der Musikhalle zum Hangar in der Lüneburger Heide, von dem Bauwagen in Fischbek zu den Ketchup-Menetekeln in Stormarn, von der Barsbütteler Spindtür zum Brunnenschacht im Alten Land.
Und plötzlich spürte ich die Notwendigkeit, mich darin zu verwickeln.
Ich wusste, dass nichts umsonst war. Ich wusste, dass alles Wertvolle knapp war und alles Knappe wertvoll. Ich wusste, dass der Spaß an der Party mit der Strenge des Türstehers steigt.
Die Ablehnung, die mir Schmiddels Gang bei meinem ersten Besuch an der Brücke entgegengebracht hatte, war für mich ein gültiger Hinweis, dass der Besuch sich gelohnt hatte. In meinem Fotografinnenleben hatte ich gelernt, mit Abweisung umzugehen. Ich wusste, dass es ins Chaos führte, eine Taktik zu oft zu ändern; das Einzige, was auf Dauer half, war Hartnäckigkeit.
Die härteste Nuss war Zebra.
Zebra war eine Kriegerin; ständig sah sie sich um, aufrecht und wachsam. Ich traf sie allein unter der Brücke an; orange Blüten bestirnten ihr schwarzes Kleid. »Darf ich«, fragte ich, bevor ich mich auf meinen Regiestuhl setzte; mein Lächeln überrollte Zebras misstrauischen Blick.
»Sind Sie auch aus Hamburg«, fragte ich mit Schwung.
»Und du bist von der Presse«, gab Zebra tonlos zurück.
Ich war professionell genug, um nicht beleidigt zu sein. Ich wusste selbst am besten, dass ich nicht von der Presse war. Ich war eine Astronautin, die fernen Lichtern folgte, durch großeLeeren und Kälte. »Ich arbeite mit Fotografie«, wiederholte ich geduldig und wahrheitsgemäß.
»Na klasse«, sagte Zebra. Sie beugte sich hinab zu ihren Militärstiefeln, zog die roten Schnürbänder straff.
Ich sah das Blümchenkleid über der Tarnhose. Ich ahnte ihr mitleidiges Herz. Ich hatte keine Angst vor Zebras Stiefeln, vor ihren straffen, mit einem Gummi gespannten Haaren, die aussahen, als könnten sie reißen. Ich lächelte, nickte; ich gab ihr recht. Das war ein Trick, der immer wirkte, gerade bei Menschen, die behaupteten, nichts mehr zu hassen als Jasager.
Über ihre Vergangenheit wollten sie alle nicht sprechen. Ich musste mir ihre Geschichten ausmalen, aus ihren Falten, Narben und Tätowierungen lesen, aus der Gier oder der Abscheu, mit der sie auf Eier oder Orangenlikör reagierten, aus ihrem plötzlichen Lachen an Stellen, die nicht zum Lachen waren. Ich sah die wilde Zebra, ihre revolutionären Brauen,
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