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Ueberdog

Ueberdog

Titel: Ueberdog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg-Uwe Albig
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die ihm ähnlich waren. Und es waren die noch viel selteneren Leute, die er nicht durchschaute. Denn Schmiddel, der Undurchschaubare, durchschaute so gut wie jeden.
    Ich stellte mir vor, wie Schmiddels Zeichnungen sich auf den Weg durch die Stadt machten. Vielleicht klebten sie locker, von Heimkehrern im Morgengrauen mit der allerletzten Spucke befestigt, an Litfaßsäulen. Oder sie klemmten hinter Scheibenwischern oder auf den Gepäckträgern der Fahrräder. Sie plackten auf den Abendpost -Werbereitern vor den Kiosken, tauchten in den Auslagen der Schmuckabteilung im Alsterhaus auf. Sogar die Hautbilder konnten, noch im Flackerlicht abfotografiert, ihren Weg ins Netz gefunden haben, auf die Wände der Apartments oder, ausgedruckt, in vergebliche Liebesbriefe.
    Das Crotch aber wurde zwangsläufig zu klein für Schmiddel. Womöglich wurde auch er zu groß für das Crotch . Und so konnte ich mir vorstellen, dass er sich nicht lange über die Kündigung beschwerte, sondern seine fünf Gäste um sich scharte und mit ihnen, ohne sich umzudrehen, die Straße hinaufschritt. Und sich schließlich selbst zum strengen und zugleich unendlich großzügigen Türsteher erklärte für eine ganze Stadt – unbestechlichSpreu vom Weizen scheidend, Licht von der Finsternis und das Echte vom Falschen.
    Jetzt ging er neben mir in die Hocke. Er starrte in die Glut und sah mich nicht an. Plötzlich fühlte ich mich ihm nahe wie nie zuvor. Ich fragte mich, ob Nina Löwitsch ihm jemals so nahe gekommen war, ob sie ihm jemals wirklich begegnet war.
    Betty warf einen leeren Ölkanister ins Feuer, und eine krachende, prächtige Stichflamme schoss empor und schwärzte das Brückengewölbe.
    Es dauerte nicht lange, bis ich mich traute, sie zu fotografieren. Ihre Bewegungen, die mir anfangs plump und unsicher erschienen waren, kamen mir längst poetisch vor, angefüllt mit der Kraft eines geheimen Codes.
    Ich fotografierte Paul im offenen Hemd, an die Hausmauer gelehnt, fast liegend, die Beine gespreizt. Ich hielt Chucks Blick fest, strahlend vor Finsternis, wie im Gedanken an Blutrache oder Schlägereien im Hafen von Jakarta. Ich fotografierte Zebra, an Pauls linke Schulter gelehnt; die rechte Hand hing locker über seine Brust. Ihr Kopf neigte sich zu ihm herab, doch ihre Augen sahen aufmerksam und drohend in die Kamera, und auf Pauls rechter Seite saß Betty, leicht abseits, die Hände locker im Schoß. Und ich fotografierte mich selbst mit ihnen. Und erstaunt konnte ich sehen, wie sie auf den Bildern an Wirklichkeit verloren und ich an Wirklichkeit gewann.
    Ich hielt den glorreichen Moment fest, in dem Chucks Fuß eine Bierdose traf, absichtslos, als wäre sie nicht da, als wäre der Kick nur ein Schritt. Ich fotografierte seinen bandagierten Arm, den Mittelfinger in der Luft. Ich fotografierte ihn im Gegenlicht,Hände in den Taschen, seine Mondkönig-Augen, seinen Sprühdosen-Blick. Die Zigarette steckte rechtwinklig in der Faust, ein Pistolenlauf: jeder Zug ein toter Pendler.
    Ich fotografierte ihn auf dem Rückweg vom Rail-&-Clean-Klo. Aus den Lautsprechern hüpfte Händels »Wassermusik«. Und wieder überwältigte mich die schöne und aufregende Gewissheit, dass nicht das Haben zählte, sondern nur das Sein, das gewisse Etwas, das Je-ne-sais-quoi , das man nicht lernen konnte und das nichts anderes war als Gnade.
    Ich fotografierte Paul, wie er eine Platane hinaufkletterte; er verfolgte ein Eichhörnchen, das sich den Kopf in einem Joghurtbecher eingeklemmt hatte. Am Ende des zweiten Astes erwischte Paul den Schweif mit der linken Hand, ließ das Tier in der Luft hängen, fummelte mit der Rechten den Becher ab. Dann schritt er mit gemessenem Gang hinüber zum orangefarbenen Müllkorb und warf den Becher nach kurzem Antäuschen ins Schwarze.
    Und ich fotografierte Schmiddel in der Glasskulptur an der Alster, stellte ihn auf den dreieckigen Grundriss zwischen spiegelnden Scheiben. Schmiddel stand in seinem Diamanten, drehte sich grazil auf der Schuhspitze, streckte die Hand aus und klopfte an die Glaswände. Es sah aus, als wäre ihm die Skulptur auf den Leib geschneidert; als wäre er selbst eine lebende Skulptur.
    »Schön, nicht«, sagte ich. »Hat ein amerikanischer Künstler für dich gebaut.«
    »Schön«, stimmte Schmiddel zu und drehte sich weiter.

8
    Patricks nachdenkliche Blicke konnten mich nicht beirren. Manchmal hielt er beim Essen das buttertriefende Messer in der Schwebe, sah mich an, als warte er auf etwas, bevor er

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