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Ueberdog

Ueberdog

Titel: Ueberdog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg-Uwe Albig
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hörte ihr hartes Lachen und ihre mitleidlosen Sätze und stellte mir ihren Weg in einen Untergrund vor, von einem Untergrund in den nächsten Untergrund, bis sie schließlich unter dieser Brücke gelandet war, auf dem rissigen Strand unter dem Pflaster der Bernhard-Nocht-Straße, die über dem Gewölbe lag.
    Ich sah Zebras schneeweißes Elternhaus vor mir, irgendein protestantisches Pfarrhaus in Tettnang oder Bietigheim-Bissingen, obwohl sie keinen schwäbischen Akzent hatte. Ich sah ihr mürrisches, ungeschminktes Teenagergesicht, ihre Bücher, Frantz Fanon und den »Held seiner Zeit«, in einem Regal aus gebeizter Buche. Ich sah ihre Pfeife und ihre Selbstgedrehten auf der Nussbaumkommode. Ich sah ihre Anne-Frank-Frisur, sahsie tanzen bis zur Erschöpfung; ich sah ihre tödliche Ruhe, wenn der Studienrat einen roten Kopf bekam. Vielleicht hatte bei der Demonstration in Lissabon den schönen schwarzlockigen Daniele neben ihr ein Polizeiknüppel erwischt; vielleicht hatte Blut das sandfarbene Wildleder ihrer Cowboystiefel gefärbt. Dann womöglich das Ausbildungslager in Nahost, die konspirative Wohnung in Steilshoop, der ölige Glanz der Handgranaten, der starre Blick durch die Windschutzscheibe des BMW, auf dem Schoß die »Vogue Italia«. Dann die Fluchten von Versteck zu Versteck, schließlich die Flucht vor allen Verstecken, vor den Versteckten selbst. Sie konnte nichts mitnehmen als ihr Schweigen, das eine Welt unter sich begraben konnte. Manchmal hatte sie noch diesen Blick, der auslöschen konnte, nicht durch seine Gewalt, sondern durch seine Feuchtigkeit.
    Ich hatte Geduld. Ich beschloss, keine Fragen zu stellen. Ich erfuhr auch so, dass die Frau mit der Glatze Betty genannt wurde. Ich erfuhr nicht, warum sie nie etwas sagte außer »shit«, gelegentlich auch »fuck«. Betty war die Einzige, zu der mir keine Geschichte einfiel; ihre Erlebnisse schienen ohne Ablagerungen durch ihren Körper gesickert zu sein wie die Gallonen von Bier und Gabba, die sie täglich schluckte. Sie ließen keine Wünsche zurück, keine Ängste, keine Krähenfüße; nur einfache, bedenkenlose Motorik.
    Was ihr Gesicht durchgemacht haben mochte, bedeckten jetzt Schichten billiger Schminke, kambrisch, präkambrisch, pleistozänisch. Sogar die Narben auf ihren Armen und auf ihrem Schädel sahen aus wie geschminkt, unpassend und ungelenk eingetragene Höhenzüge auf der stummen Karte ihres Körpers.»Wer hat denn da auf deine Schulter den Ural hingeschlappt, Betty«, fragte ich sie. »Oder sind das die Pyrenäen.« Ich bekam keine Antwort und fragte nicht weiter. Wer keine Antwort gibt, ist immer im Recht.
    Wo die Schminke herkam, blieb unklar. Ich fragte auch nie, woher die Salamis kamen, die Prager Schinken in der noch heißen Kruste, die Kartoffelgratins in ihrer plissierten Aluschale. Ich fragte nicht nach den Quellen von Bier, Rum und Gatorade. Die Ökonomie des Glamours, hatte mir einmal Patrick erklärt, beruht auf der Verschleierung dieser Ökonomie. Und eine Spielverderberin war ich noch nie.
    Manchmal brachte ich selbst einen Kuchen mit, einen Glasnudelsalat oder ein Bündel Sprotten von Brocksiepen. Die anderen nickten, packten die Gabe beiseite oder stopften sie in die Kinderwagen. Manchmal schleppte Chuck Tüten herbei, aus denen sie dann einträchtig Leberwurstgläser zu Tage förderten, einen Barren Greyerzer oder einen sardischen Rauchschinken.
    Chucks Augen waren blau und listig. Sie hatten dieses unverschämte Zwinkern in den Winkeln; doch er sah eher wie ein Schurke im Ruhestand aus als ein praktizierender Dieb. Ich stellte mir seine großbürgerliche Herkunft vor, das vor dem Verfall gerettete Wasserschloss in Westfalen. Ich sah die milden Falten um den Mund des Großvaters, des Patriarchen mit dem Nähmaschinenimperium und der femininen Ader. Ich stellte mir die Kunstsammlung seiner Eltern vor, die sich in seine Netzhaut gebrannt hatte, lauter höherklassige Brennans, Chardonniers, Stoltenbergs; sicherlich hatte ihn Sigmund Blegvad, »As Time Goes By« summend, auf den Knien geschaukelt.
    Dann, mit vierzehn, der erste Einbruch, der ein Ausbruchwar; nach der JVA erschien ihm der Nähmaschinenpalast nur noch als weiteres Gefängnis. Ich sah Chucks feingliedrige Hände an, immer leicht gekrümmt, wie zusammengekrallt, als hielten sie noch die Sprühdosen, mit denen er dann über Hamburger Mauern und S-Bahnen herfiel, über Schiffsrümpfe und schlafende Segelflugzeuge. Ich sah die Paranoia in seinen Augen, den Schrei

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