Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
– waren in meiner Jugend fürstliche Kaufleute. Ihre Stimmen wurden gehört, sie
hatten Gewicht.«
Borgenicht lernte in einem Tuchladen, der einem Mann namens Epstein gehörte, und wechselte dann in den Nachbarort Jaslow in
den Laden eines Mannes namens Brandstatter. Dort wurde der junge Borgenicht mit den Dutzenden von Stoffarten derart vertraut,
dass er mit der Hand über einen Stoff streichen und dessen Fadenzahl, Herkunftsort und Hersteller nennen konnte. Einige Jahre
später zog Borgenicht nach Ungarn, wo er Regina kennenlernte. Sie hatte seit dem sechzehnten Lebensjahr eine eigene Damenschneiderei
geführt. Die beiden eröffneten eine Reihe kleiner Tuchläden und lernten so von der Pike auf, was es bedeutet, ein Kleinunternehmen
zu führen.
Der Einfall, den Louis Borgenicht auf seiner Kiste in der Hester Street hatte, kam also nicht von ungefähr. Er war ein Veteran
des Tuchgewerbes und seine Frau eine erfahrene Schneiderin. Das war ihr Handwerk. Und während die Borgenichts ihre kleine
Wohnung in New York in eine Werkstatt verwandelten, nutzten mit ihnen Tausende anderer jüdischer Einwanderer ihre Fähigkeiten
als Näher und Schneider, sodass bis zum Jahr 1900 die Bekleidungsindustrie |130| fast vollständig in der Hand der osteuropäischen Einwanderer war. Die Juden »nahmen einen großen Bissen des gastfreundlichen
Landes und arbeiteten wie Verrückte auf dem Gebiet, das sie am besten beherrschten«, wie Borgenicht schreibt.
Heute liegt New York inmitten einer riesigen und wirtschaftlich stark diversifizierten Metropolregion, und man vergisst leicht,
wie wichtig die Fähigkeiten waren, die Einwanderer wie die Borgenichts in die Neue Welt mitbrachten. Zwischen dem Ende des
19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts war die Bekleidungsindustrie die dynamischste Branche der Stadt. In der Kleiderfabrikation
waren mehr Menschen beschäftigt als in irgendeinem anderen Gewerbe, und in New York wurde mehr Bekleidung hergestellt als
in irgendeiner anderen Stadt der Welt. Die typischen Gebäude, wie sie bis heute den südlichen Teil des Broadway in Manhattan
säumen – von den zehn- bis fünfzehnstöckigen Lagerhäusern in den 20 Straßenzügen unterhalb des Times Square bis zu den gusseisernen
Dachetagen von Soho und Tribeca –, beherbergten fast durchweg Mantelschneider, Hutmacher und Dessoushersteller, und in ihren
großen Räumen saßen zahllose Männer und Frauen über ihre Nähmaschinen gebeugt. Wer in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts
nach New York kam und Erfahrung im Nähen und Schneidern mitbrachte, hatte außerordentliches Glück. Es war so, als wäre man
1976 mit 10 000 Stunden Programmiererfahrung nach Silicon Valley gekommen.
»Es besteht kein Zweifel, dass die jüdischen Einwanderer zur richtigen Zeit und mit den richtigen Fähigkeiten nach New York
kamen«, meint der Soziologe Stephen Steinberg. »Um diese Chance zu nutzen, musste man bestimmte Qualitäten mitbringen, und
diese Einwanderer waren ausgezeichnete Arbeiter. Sie brachten Opfer. Sie knauserten, sparten und investierten geschickt. Natürlich
wuchs die Bekleidungsindustrie damals explosionsartig. In der Wirtschaft wurden genau die Qualifikationen nachgefragt, die
sie mitbrachten.«
Louis und Regina Borgenicht und die Tausende anderen, die mit |131| ihnen auf den Dampfern nach Amerika auswanderten, bekamen eine goldene Chance. Und mit ihnen ihre Kinder und Enkelkinder,
denn die Lektionen, die diese Eltern von der Arbeit mit nach Hause brachten, waren entscheidend für ihren Erfolg.
10.
Am Tag, nachdem Louis und Regina Borgenicht ihre ersten 40 Schürzen verkauft hatten, wurde Louis bei H. B. Claflin and Company
vorstellig. Claflin war, ähnlich wie Brandstatter in Polen, Kommissionär für Kurzwaren. Dort fragte Borgenicht nach einem
Verkäufer, der Deutsch sprach, denn er verstand so gut wie kein Wort Englisch. In der Tasche hatte er 125 Dollar, die gesamten
Ersparnisse der Familie, und mit diesem Geld kaufte er Stoff für zehn Dutzend Schürzen. Tag und Nacht schnitten er und Regina
die Stoffe zu und nähten. Innerhalb von zwei Tagen waren die Schürzen ausverkauft. Wieder ging Louis zu Claflin. Auch die
neuen Schürzen gingen schnell weg. Schon bald stellten die beiden eine Frau, die wie sie gerade in Amerika angekommen war,
ein, um auf die Kinder aufzupassen, damit Regina den ganzen Tag über nähen konnte. Wenig später kam ein Mädchen als Lehrling
dazu. Louis
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