Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
galten in den Vierzigerjahren als die besten des ganzen Landes«, erklärt Diane Ravitch,
die an der New York University unterrichtet und sich intensiv mit der Geschichte des Bildungssystems der Stadt beschäftigt
hat. »In den Dreißiger- und Vierzigerjahren unterrichteten Lehrer an den Schulen, die in einer anderen Epoche vermutlich an
einer Universität gearbeitet hätten. Es waren brillante Akademiker, doch da sie |123| anderswo keine Arbeit fanden, gingen sie an die Schulen, die ihnen ein sicheres Gehalt, Rente und Kündigungsschutz boten.«
Als diese Generation an die Universität kam, profitierte sie von derselben Dynamik. Ted Friedman, einer der angesehensten
New Yorker Prozessanwälte der Siebziger- und Achtzigerjahre, der wie Flom als Kind armer jüdischer Einwanderer aufwuchs, erinnert
sich: »Ich hatte die Wahl zwischen dem City College und der University of Michigan.« Das City College war kostenlos, und Michigan,
damals wie heute eine der Spitzenuniversitäten der Vereinigten Staaten, kostete 450 Dollar pro Jahr. »Aber wenn man gute Noten
hatte, konnte man nach dem ersten Jahr ein Stipendium bekommen. Wenn ich gut war, musste ich also nur das erste Jahr bezahlen.«
Friedman wollte zunächst in New York bleiben. »Ich bin einen Tag lang aufs City College gegangen, aber es hat mir nicht gefallen.
Ich dachte, das ist wie vier weitere Jahre Bronx Science [Friedmans High School], bin nach Hause gegangen, habe meine Sachen
gepackt und bin nach Ann Arbor getrampt.« Er erzählt weiter:
Von meinem Ferienjob hatte ich noch 200 Dollar in der Tasche. Ich hatte in den Catskill Mountains gearbeitet, um mir die 450
Dollar Studiengebühren zu verdienen, und hatte Geld übrig. In einem teuren Restaurant in Ann Arbor habe ich einen Kellnerjob
bekommen. Ich habe auch in den Ford-Werken in River Rouge Nachtschicht gearbeitet. Das war richtiges Geld. Es war nicht sonderlich
schwer, den Job zu bekommen. Die Fabriken haben händeringend Leute gesucht. Ich hatte auch noch einen anderen Job, den am
besten bezahlten vor meiner Zeit als Anwalt, und das war ein Job auf dem Bau. Im Sommer haben wir in Ann Arbor das Testgelände
für Chrysler gebaut. Während des Jurastudiums habe ich ein paar Mal in den Sommerferien da gearbeitet. Die Arbeit war wirklich
gut bezahlt, vermutlich wegen der vielen Überstunden.
Sehen wir uns diese Geschichte einmal genauer an. Zunächst einmal können wir aus ihr lernen, dass Friedman bereit war, hart
zu arbeiten, Verantwortung für sich zu übernehmen und für seine Ausbildung selbst aufzukommen. Vielleicht noch wichtiger ist
jedoch die Tatsache, dass er in einer Zeit lebte, in der es
möglich
war, hart zu arbeiten und Verantwortung für sich selbst zu übernehmen |124| , wenn man das wollte. Friedman gehörte damals dem »wirtschaftlichen Prekariat« an, wie man das heute nennen würde. Er kam
aus der Bronx, und weder sein Vater noch seine Mutter hatten die Universität besucht. Trotzdem war es keine Schwierigkeit
für ihn, eine gute Ausbildung zu bekommen. Er besuchte die Schule zu einer Zeit, als die staatlichen Schulen von New York
von aller Welt beneidet wurden. Seine erste Wahl, das City College, wäre kostenlos gewesen, und seine zweite Wahl, die University
of Michigan, kostete ihn lediglich 450 Dollar. Die Aufnahmeverfahren waren offenbar derart informell, dass er zuerst in die
eine, dann in die andere Universität hineinschnuppern konnte.
Und wie kam er nach Michigan? Er trampte mit dem Verdienst aus seinem Ferienjob in der Tasche nach Ann Arbor, und gleich nach
seiner Ankunft fand er eine Reihe gut bezahlter Jobs, mit denen er sein Studium finanzierte, denn »die Fabriken haben händeringend
Leute gesucht«. Natürlich taten sie das: Sie mussten die Nachfrage der geburtenstarken Jahrgänge unmittelbar vor der demografischen
Delle der Dreißigerjahre und der neuen Generation der Baby Boomer unmittelbar danach befriedigen. Dieses Gefühl der unbegrenzten
Möglichkeiten, das für den Erfolg so wichtig ist, kommt nicht nur aus uns selbst heraus oder von unseren Eltern. Es kommt
auch aus der Zeit, in der wir leben, und den spezifischen Möglichkeiten, die uns ein bestimmter historischer Moment bietet.
Für einen angehenden Anwalt war es geradezu ideal, Anfang der Dreißigerjahre zur Welt gekommen zu sein, genau wie für einen
Softwareentwickler das Jahr 1955 und für einen Industriellen das Jahr 1835 das perfekte Geburtsjahr
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