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Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht

Titel: Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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ging bis nach Harlem und verkaufte die Schürzen an die Mütter in den Mietskasernen. Er mietete einen Laden an
     der Sheriff Street, der im hinteren Teil Wohnräume hatte. Dann stellte er drei weitere Mädchen ein und kaufte für jede eine
     Nähmaschine. Er wurde als »Schürzenmann« bekannt. Louis und Regina kamen kaum noch mit der Herstellung nach.
    Es dauerte nicht lange und die Borgenichts erweiterten ihr Programm. Sie schneiderten Schürzen für Erwachsene, Unterröcke
     und schließlich auch Frauenkleider. Sie hatten eine eigene Fabrik im Manhattaner Stadtteil Lower East Side und eine immer
     länger werdende Liste von Kunden, darunter einen Laden, der einer weiteren jüdischen Einwandererfamilie gehörte: den Bloomingdale-Brüdern.
     Damals waren die Borgenichts gerade einmal drei Jahre |132| im Land. Sie sprachen kaum Englisch. Und sie waren weit vom Wohlstand entfernt. Was sie verdienten, butterten sie sofort wieder
     in ihr Unternehmen, und Louis Borgenicht berichtet, sie hätten damals höchstens 200 Dollar auf dem Konto gehabt. Aber sie
     hatten ihr Schicksal selbst in die Hand genommen.
    Das war der zweite große Vorteil der Bekleidungsindustrie. Sie wuchs nicht nur sprunghaft, sie bot auch Möglichkeiten für
     freies Unternehmertum. Kleider wurden nicht in großen Fabriken hergestellt. Stattdessen entwickelten einige etablierte Firmen
     neue Entwürfe und bereiteten die Stoffe vor, um dann die komplizierte Fertigung, das Bügeln und das Annähen der Knöpfe an
     kleinere Vertragsfirmen abzugeben. Wenn diese Vertragsfirmen groß oder ehrgeizig genug waren, entwarfen sie ihre eigenen Modelle
     und schnitten die Stoffe selbst zu. Im Jahr 1913 gab es rund 16000 eigenständige Unternehmen in der New Yorker Textilbranche,
     von denen viele dem Laden der Borgenichts in der Sheriff Street ähnelten.
    »Der Einstieg ins Textilgewerbe war einfach. Es reichte eine Nähmaschine, und die war billig«, erklärt der Historiker Daniel
     Soyer, der sich ausführlich mit der Geschichte der Textilbranche beschäftigt hat. »Es war also kaum Kapital nötig. Anfang
     des 20. Jahrhunderts reichten 50 Dollar, um ein oder zwei Maschinen zu kaufen. Als Vertragsnehmer brauchte man an ein paar
     Nähmaschinen, Bügeleisen und ein paar Mitarbeiter. Die Gewinne waren bescheiden, aber es ließ sich ein bisschen Geld verdienen.«
    Und so beschreibt Borgenicht seine Entscheidung, über die Schürzen hinaus zu expandieren:
    Ich hatte den Markt beobachtet und wusste, dass es im Jahr 1890 nur drei Firmen gab, die Kinderbekleidung herstellten. Einer
     war ein Schneider an der East Side, ganz in unserer Nähe, der nur Maßbekleidung anfertigte, und die anderen beiden stellten
     so teure Waren her, dass ich nicht mit ihnen in Konkurrenz treten wollte. Ich wollte preisgünstige Bekleidung herstellen –
     aus Baumwolle, Seide und Wolle. Ich wollte Kleider verkaufen, die sich die Mehrheit der Menschen leisten konnte und die sich
     – aus |133| unternehmerischer Sicht – in großen und kleinen Geschäften sowie in der Stadt und auf dem Land gleich gut verkaufen würden.
     Zusammen mit Regina – sie hatte immer einen ausgezeichneten Geschmack – entwarf ich verschiedene Modelle. Als ich diese meinen
     »alten« Kunden und Freunden vorstellte, bläute ich ihnen immer wieder die Verkaufsargumente ein: Die Kleider bedeuteten eine
     große Arbeitserleichterung für die Mütter, Material und Verarbeitung waren mindestens so gut wie das, was sie zu Hause herstellen
     konnten, wenn nicht besser, und durch den attraktiven Preis ließen sie sich rasch verkaufen.
    Irgendwann erkannte Borgenicht, dass er größere Hersteller nur dann unterbieten konnte, wenn er die Zwischenhändler umging
     und einen Großhändler fand, der direkt an ihn verkaufte. Also suchte er einen gewissen Mr. Bingham bei Lawrence and Company
     auf, »einen großen, hageren Yankee mit weißem Bart und stahlblauen Augen«. Da stand also der polnische Einwanderer mit den
     vor Müdigkeit geränderten Augen und verhandelte in gebrochenem Englisch mit dem herrischen Yankee. Borgenicht wollte 40 Kisten
     Kaschmir. Bingham hatte noch nie direkt an eine Näherei verkauft, schon gar nicht an eine Schnürsenkelfirma aus der Sheriff
     Street.
    »Was glauben Sie, wer Sie sind, dass Sie hierher kommen und mich um Gefälligkeiten bitten«, schnaubte Bingham. Doch schließlich
     sagte er zu.
    Während seines 18-Stunden-Tags erhielt Borgenicht eine Einführung in die moderne Wirtschaft. Er

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