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Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht

Titel: Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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abgegangen war und schon beinahe die Hoffnung aufgegeben
     hatte, fand er schließlich die Antwort. Er saß auf einer Kiste und aß die Stullen, die Regina ihm geschmiert hatte.
Bekleidung
. An jeder Ecke eröffneten neue Geschäfte, die Anzüge, Kleider, Overalls, Hemden, Röcke, Blusen, und Hosen verkauften. Für
     jemanden, der aus einer Welt kam, in der Kleider zu Hause genäht oder von einem Schneider nach Maß angefertigt wurden, war
     dies eine Offenbarung.
    »Was mich am meisten wunderte, war nicht so sehr die schiere Menge der Bekleidung, obwohl das an sich schon ein Wunder war«,
     erinnerte sich Borgenicht Jahre später, als er bereits ein wohlhabender Fabrikant von Frauen- und Kinderbekleidung war, »sondern
     die Tatsache, dass sich in Amerika selbst arme Menschen die eintönige und zeitaufwändige Näharbeit sparen und einfach in ein
     Geschäft gehen und die Kleider kaufen konnten, die sie brauchten.
Das
war der Bereich, in den ich gehen wollte.«
    Borgenicht holte ein kleines Notizbuch hervor. Wo immer er hinging, notierte er, was die Menschen trugen und was verkauft
     wurde – Herrenbekleidung, Damenbekleidung, Kinderbekleidung. Er wollte etwas Neues finden, das die Menschen anziehen würde
     und das bisher nicht verkauft wurde. Vier weitere Tage lang ging er durch die Straßen. Am Abend des vierten Tages sah er auf
     dem Heimweg ein paar Mädchen, die auf der Straße Himmel und Hölle spielten. Eines der Mädchen trug eine kleine, bestickte
     Schürze über ihrem Rock, die vorn tief ausgeschnitten und hinten mit einer Schleife zusammengebunden war. Ihm fiel auf, dass
     er in all den Tagen, in denen er unermüdlich das Angebot der Kleidergeschäfte der Lower East Side begutachtet hatte, nirgends
     eine solche Schürze gesehen hatte.
    |128| Er kam nach Hause und erzählte Regina davon. Sie hatte eine alte Nähmaschine, die sie bei ihrer Ankunft in Amerika gekauft
     hatten. Am nächsten Morgen ging er in einen Kurzwarenladen an der Hester Street und kaufte 100 Meter Gingan und 50 Meter weißes
     Leinen. Er kam in die kleine Wohnung und legte die Ware auf den Tisch. Regina schnitt die Stoffe in verschiedenen Größen zu,
     bis sie 40 Schürzen hatte. Dann nähte sie. Als sie um Mitternacht zu Bett ging, setzte sich Louis an die Nähmaschine. Bei
     Tagesanbruch stand sie auf, schnitt die Knopflöcher aus, umbördelte sie und nähte die Knöpfe an. Gegen zehn Uhr morgens waren
     die Schürzen fertig. Louis warf sie sich über den Arm und ging hinaus auf die Hester Street.
    »Kinderschürzen! Schürzen für Mädchen! Bunte zehn Cent, weiße fünfzehn Cent! Mädchenschürzen!«
    Um ein Uhr hatte er alle verkauft.
    »Mama, wir haben unser Geschäft!«, rief er Regina zu, nachdem er den ganzen Weg nach Hause gerannt war.
    Er packte sie um die Taille und wirbelte sie im Kreis herum.
    »Du musst mir helfen!«, rief er. »Wir arbeiten zusammen!
Das
ist unser Geschäft

    9.
    Jüdische Einwanderer wie die Floms, die Borgenichts und die Janklows unterschieden sich von den anderen Einwanderern, die
     im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten kamen. Die Iren und Italiener waren Bauern aus verarmten
     ländlichen Regionen Europas. Anders die Juden. Jahrhundertelang hatten sie in Europa kein Land besitzen dürfen, weshalb sie
     sich in den Städten konzentrierten und Handwerksberufe ausübten. Etwa 70 Prozent aller osteuropäischen Juden, die in den drei
     Jahrzehnten vor Beginn des Ersten Weltkriegs über Ellis Island in die Vereinigten Staaten kamen, hatten einen Beruf gelernt.
     Sie hatten kleine Lebensmittelläden oder Schmuckgeschäfte besessen. Die meisten |129| kamen jedoch aus dem Bekleidungsgewerbe. Sie waren Herren und Damenschneider, Hut- und Mützenmacher, Kürschner und Gerber.
    Louis Borgenicht hatte beispielsweise im Alter von zwölf Jahren das Haus seiner verarmten Eltern verlassen, um als Verkäufer
     in einem Gemischtwarenladen in der polnischen Ortschaft Brzesko zu arbeiten. Als sich eine Möglichkeit bot, in einer Schnittwarenhandlung
     anzufangen, griff er zu. »Die Schnittwarenhändler kleideten damals die Welt ein«, schreibt er. »Von den drei für das Leben
     in einer einfachen Gesellschaft erforderlichen Dingen waren Essen und Wohnen bescheiden. Bekleidung war dagegen etwas Vornehmes.
     Vertreter des Bekleidungsgewerbes – Händler von kostbaren Stoffen aus ganz Europa, Handlungsreisende, die auf ihren jährlichen
     Einkaufsreisen die Industriezentren besuchten

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