Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
studiert Buchhaltung.«
5.
Die Geschichte der Wunderschule, die Verlierer zu Gewinnern macht, klingt natürlich nur allzu vertraut. Wir kennen sie aus
Wohlfühlliteratur und schmalzigen Hollywoodfilmen. Doch die Wirklichkeit einer Schule wie der KIPP-Academy ist weit weniger
glamourös. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, was 50 bis 60 Prozent mehr Lernzeit bedeuten, wollen wir uns den Alltag
einer typischen KIPP-Schülerin ansehen.
Das Mädchen heißt Marita, sie ist die einzige Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die nie zur Universität ging. Die beiden
leben in einer Einzimmerwohnung in der Bronx. Marita ging auf eine christliche Grundschule in ihrer Straße, ehe ihre Mutter
von der KIPP-Academy hörte. »In der vierten Klasse haben ich und meine Freundin Tanya uns an der KIPP-Academy beworben«, erzählt
Marita. »Ich erinnere mich noch gut an Miss Owens. Sie hat |232| ein Vorstellungsgespräch mit mir geführt, und was sie gesagt hat, das hat alles so heftig geklungen, dass ich gedacht habe,
ich komme ins Gefängnis. Ich habe fast geweint. Und sie hat gesagt, wenn du nicht willst, musst du dich nicht in die Liste
eintragen. Aber meine Mama war dabei, also habe ich mich eingetragen.«
Damit veränderte sich das Leben des Mädchens von Grund auf. Wenn Sie die folgenden Absätze lesen, sollten Sie sich gelegentlich
daran erinnern, dass Marita erst zwölf Jahre alt ist.
»Ich stehe um viertel vor sechs auf, putze mir die Zähne und dusche mich«, berichtet sie. »Wenn ich spät dran bin, frühstücke
ich in der Schule. Meine Mutter treibt mich meistens an, weil ich herumtrödele. An der Bushaltestelle treffe ich mich mit
meinen Freunden Diana und Steven, und wir nehmen den Einserbus.«
Dass der Wecker um viertel vor sechs klingelt, ist für Schüler der KIPP-Academy nichts Ungewöhnliches, zumal viele lange Strecken
mit dem Bus oder der U-Bahn zurücklegen müssen. Bei meinem Besuch fragt Levin die 70 Kinder in einem Musikkurs, zur welcher
Uhrzeit sie morgens aufstehen. Eine Handvoll Schüler kann bis nach 6 Uhr liegen bleiben. Drei Viertel geben an, vor 6 Uhr
aufzustehen, etwa die Hälfte sogar vor halb 6. Einer von Maritas Klassenkameraden, ein Junge namens José, erzählt, er stehe
jeden Morgen zwischen 3 und 4 Uhr auf, mache seine Hausaufgaben fertig und lege sich dann noch ein Weilchen schlafen.
Marita erzählt weiter:
Um 5 Uhr nachmittags ist die Schule aus, und wenn ich nicht bummele, dann komme ich gegen halb 6 nach Hause. Ich unterhalte
mich ganz kurz mit meiner Mutter und fange dann mit den Hausaufgaben an. Wenn es nicht so viel ist, brauche ich zwei oder
drei Stunden, dann bin ich gegen 9 Uhr fertig. Wenn ich Aufsätze schreiben muss, wird es schon mal 10 oder halb 11.
Manchmal sagt mir meine Mama, ich soll zum Abendessen eine Pause machen. So um 8 Uhr esse ich was zu Abend, eine halbe
Stunde oder so, und dann setze ich mich wieder an meine Hausaufgaben. Danach will meine Mama meistens hören, wie mein Schultag
so war, aber ich muss |233| es schnell machen, denn ich muss um 11 im Bett sein. Also mache ich alles fertig und gehe ins Bett. Ich erzähle ihr von meinem
Tag, was los war und so, und wenn ich fertig bin, ist sie schon am Einschlafen. Dann ist es so gegen viertel 12. Dann schlafe
ich, und am nächsten Morgen geht’s wieder los. Wir schlafen im selben Zimmer. Aber es ist groß und lässt sich abteilen, und
jede hat ihr Bett auf einer anderen Seite. Meine Mama und ich, wir verstehen uns sehr gut.
Sie berichtet in der sachlichen Art eines Kindes, das keine Ahnung hat, wie außergewöhnlich seine Situation ist. Sie hat das
Arbeitspensum einer Stationsärztin oder einer Rechtsanwältin, die in ihrer Kanzlei Partnerin werden will. Es fehlen nur die
dunklen Ringe unter den Augen und der Becher Kaffee, doch dazu ist sie noch zu jung.
»Manchmal komme ich nicht rechtzeitig ins Bett«, erzählt sie weiter. »Ich lege mich so um 12 Uhr schlafen, und am Nachmittag
erwischt es mich dann. Manchmal schlafe ich im Unterricht ein. Aber ich muss aufwachen, um alles mitzukriegen. Einmal bin
ich im Unterricht eingeschlafen, und mein Lehrer hat mich gesehen und gesagt: ›Kann ich nach der Stunde mit dir sprechen?‹
Und er hat mich gefragt: ›Warum bist du im Unterricht eingeschlafen?‹, und ich hab ihm gesagt, ich bin spät ins Bett. Und
er so: ›Du musst früher ins Bett.‹«
6.
Maritas Tagesablauf ist für eine Zwölfjährige
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