Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
mit
einem Kurs namens Denkkompetenz, der bis fünf vor acht dauert. Danach haben die Kinder jeden Tag 90 Minuten Englisch und 90
Minuten Mathematik, und in der fünften Klasse sind es sogar zwei Stunden Mathematik. Dazu kommen eine Stunde Naturwissenschaften,
eine Stunde Sozialkunde, mindestens zwei Mal pro Woche ein Stunde Musik plus eine Stunde und 15 Minuten Orchester für alle.
Der Schultag beginnt um 7:25 Uhr und endet um 17 Uhr. Danach gibt es betreute Hausaufgabengruppen, Nachsitzen und Mannschaftssport.
An einem durchschnittlichen Tag bekommen unsere Schüler zwischen 50 und 60 Prozent mehr reine Lernzeit als die Schüler an
anderen staatlichen Schulen.«
Levin steht im Gang der Schule. Es ist Mittagspause, und die Kinder gehen in geordneten Reihen an ihm vorüber. Sie tragen
Hemden der KIPP-Academy. Levin hält ein Mädchen an, dessen Bluse hinten aus dem Rock heraushängt. »Tu mir einen Gefallen,
wenn du dazu kommst«, sagt er und tut so, als würde er sich sein Hemd in die Hose stecken. Dann fährt er fort. »Samstags dauert
der Unterricht von neun bis eins. Im Sommer von acht bis zwei.« Die Schüler der KIPP-Academy drücken nämlich im Juli drei
Wochen zusätzlich die Schulbank. Dies sind genau die Kinder, die |230| nach Alexanders Untersuchung in den Sommerferien zurückfallen, weshalb KIPP einfach die Sommerferien verkürzt hat.
»Der Anfang ist schwer«, fährt er fort. »Am Ende des Schultags sind die Kinder zappelig. Ein Teil ist Ausdauer, ein anderer
Teil ist Motivation. Anreiz, Belohnung und Spaß gehören genauso dazu wie altmodische Disziplin. Das kommt alles in einen Topf.
Wir reden hier viel von Mumm und Selbstbeherrschung. Die Kinder wissen, was diese Begriffe bedeuten.«
Levin geht den Gang hinunter und stellt sich wortlos hinter die letzte Stuhlreihe eines Klassenzimmers, in dem gerade Mathematik
unterrichtet wird. Ein Schüler namens Aaron steht an der Tafel und arbeitet eine der Denkaufgaben durch, wie sie sämtliche
KIPP-Schüler jeden Morgen lösen. Der Lehrer Frank Corcoran, ein Mitdreißiger mit Pferdeschwanz, springt nur gelegentlich ein,
um die Diskussion zu leiten. Die Szene ähnelt jenen, wie sie tagtäglich in Tausenden Klassenzimmern im ganzen Land zu beobachten
sind, mit einem entscheidenden Unterschied: Aaron steht vor der Klasse und arbeitet sorgfältig, methodisch und mit Unterstützung
der gesamten Gruppe 20 Minuten lang an einer einzigen Aufgabe; er sucht nicht nur nach der richtigen Lösung, sondern erörtert
am Ende außerdem die Frage, ob es noch weitere Lösungswege gibt. Die Szene erinnerte an Renee, die sich geduldig das Problem
der Steigung einer Geraden erarbeitet.
»Dieses Mehr an Zeit schafft eine entspanntere Atmosphäre«, erklärt Corcoran in der Pause. »Das Problem mit dem Mathematikunterricht
ist, dass die Kinder meistens einfach ins kalte Wasser geworfen werden. Es muss immer alles schnell gehen, und wer es als
Erster weiß, der wird belohnt. Deswegen haben viele Kinder das Gefühl, dass es ein paar Genies gibt und dass die anderen die
Mathematik nie kapieren werden. Diese zusätzliche Zeit gibt den Lehrern die Möglichkeit, Dinge zu erklären, und sie gibt den
Kindern die Chance, die Materie zu verdauen, durchzusprechen, und alles gründlicher zu machen. So widersprüchlich das klingt,
aber wir gehen langsamer vor und behandeln am Ende trotzdem mehr |231| Stoff. Die Kinder merken sich die Materie besser, und sie verstehen sie besser. Ich als Lehrer bin sehr viel entspannter.
Wir haben Zeit für Spiele. Die Kinder können mir Fragen stellen, und ich kann mir mit meinen Erklärungen mehr Zeit lassen.
Ich kann den Stoff ohne Zeitdruck noch einmal Revue passieren lassen.« Die zusätzliche Zeit gibt Corcoran die Möglichkeit,
den Mathematikunterricht
sinnvoll
zu gestalten, und sie lässt die Kinder erleben, dass es einen Zusammenhang zwischen Einsatz und Erfolg gibt.
An den Wänden des Klassenzimmers hängen Dutzende Urkunden des New-York-State-Regents-Tests, die Corcorans Schüler gewonnen
haben. »Ich hatte mal ein Mädchen in einer fünften Klasse, die war schrecklich schlecht in Mathematik«, erinnert sich Corcoran.
»Jeden Samstag im Förderunterricht hat sie geweint. Dicke Tränen, sie wollte gar nicht mehr aufhören zu weinen.« Die Erinnerung
scheint Corcoran selbst zu bewegen. Er blickt zu Boden. »Sie hat mir vor ein paar Tagen eine E-Mail geschickt. Sie ist jetzt
am College. Sie
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