Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
für ihn, obwohl sie gar keinen Grund hatte, denn sie kannte ihn gar
nicht. Joyce und Graham verliebten sich ineinander, heirateten und zogen nach Kanada. Graham war Professor für Mathematik,
Joyce wurde eine erfolgreiche Buchautorin und Familientherapeutin. Die beiden hatten drei Söhne und ein wunderschönes Haus
auf einem Hügel auf dem Land. Graham heißt mit Nachnamen Gladwell. Er ist mein Vater, und Joyce Gladwell ist meine Mutter.
2.
Dies ist die Erfolgsgeschichte meiner Mutter. Doch sie stimmt so nicht. Sie ist zwar nicht erfunden, doch sie ist genauso
falsch wie eine Geschichte von Bill Gates, die den Computer in Lakeside verschweigt, oder eine Geschichte der asiatischen
Mathematikgenies, in der keine Reisfelder vorkommen. Die Geschichte, wie ich sie eben erzählt habe, unterschlägt die zahlreichen
Möglichkeiten |239| und Chancen, die meine Mutter erhielt, genauso wie die zentrale Rolle ihres kulturellen Erbes.
Im Jahr 1935, als meine Mutter und ihre Schwester vier Jahre alt waren, kam ein Historiker namens William M. MacMillan nach
Jamaika. Er war Professor der University of Witwatersrand im südafrikanischen Johannesburg. MacMillan war seiner Zeit weit
voraus und zutiefst besorgt über die soziale Benachteiligung der südafrikanischen Schwarzen. In der Karibik stellte er dieselben
Überlegungen vor wie zu Hause in Südafrika.
MacMillans Hauptsorge galt dem jamaikanischen Schulsystem. Die allgemeine Schulbildung – wenn man das, was im Schuppen neben
dem Haus meines Großvaters geschah, als »allgemeine Schulbildung« bezeichnen will – endete mit dem vierzehnten Lebensjahr.
Auf Jamaika gab es weder höhere Schulen noch Universitäten. Wer akademischen Ehrgeiz verspürte, nahm nach der Schule bei einem
Lehrer Privatunterricht und bekam mit etwas Glück einen Platz in einem Lehrerkolleg. Schüler mit weitergehenden Ambitionen
mussten sich an einer Privatschule bewerben und nach dem Abschluss in einer Universität in den Vereinigten Staaten oder England
studieren.
Doch Stipendien waren rar, und nur einige wenige Privilegierte konnten sich die Gebühren der Privatschulen leisten. »Der Weg
von der Grundschule in die weiterführenden Schulen ist schmal und steinig«, schrieb MacMillan später in seinem Buch
Warning
from the West Indies
, einer vernichtenden Kritik der britischen Kolonialpolitik. Das Schulsystem tue nichts für die »bescheidensten« Klassen.
Er schrieb weiter: »Diese Schulen tragen zur Vertiefung und Verschärfung der sozialen Ungleichheit eher noch bei.« Wenn die
Regierung den Menschen keine Chancen gebe, dann stünde ihr Ärger ins Haus, warnte er.
Kaum ein Jahr nach der Veröffentlichung von MacMillans Buch wurde die Karibik von einer Welle der Unruhen und Proteste erfasst.
In Trinidad kamen 14 Menschen ums Leben, und 59 wurden verletzt. Auf Barbados fielen ebenfalls 14 Menschen den Unruhen |240| zum Opfer, und 47 erlitten Verletzungen. Jamaika wurde durch eine Reihe von Streiks lahmgelegt, und die Kolonialverwaltung
verhängte den Ausnahmezustand. Erschrocken nahm sich die britische Regierung MacMillans Vorschläge zu Herzen und richtete
unter anderem Stipendien ein, die es akademisch interessierten Schülern ermöglichen sollten, eine der Privatschulen zu besuchen.
Die ersten Stipendien wurden im Jahr 1941 vergeben. Im folgenden Jahr nahmen meine Mutter und ihre Schwester an den Auswahlprüfungen
teil. Auf diese Weise kamen sie zu ihrer Hochschulzulassung – wären sie nur zwei oder drei Jahre früher zur Welt gekommen,
hätten sie niemals eine vollständige Schulausbildung erhalten. Dass das Leben meiner Mutter diese Wende nahm, hat sie ihrem
Geburtsjahr, den Unruhen des Jahres 1937 und nicht zuletzt William MacMillan zu verdanken.
Wenn ich geschrieben habe, meine Großmutter Daisy sei »für ihre Schönheit berühmt« gewesen, dann war dies eine achtlose und
herablassende Beschreibung. Daisy war eine entschlossene Frau. Wenn meine Mutter und ihre Schwester Harewood verließen, um
Saint Hilda’s zu besuchten, dann hatten sie das vor allem ihr zu verdanken. Mein Großvater mag ein stattlicher und gelehrter
Mann gewesen sein, doch er war ein Idealist und Träumer, der sich in seinen Büchern vergrub. Er mochte seinen Töchtern das
Allerbeste wünschen, doch er hatte weder die Energie noch die Vision, diese Wünsche in die Tat umzusetzen. Anders meine Großmutter.
Saint Hilda’s war ihre Idee: Einige der
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