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Ueberflieger

Titel: Ueberflieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Malcolm Gladwell
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Textilbranche – so halsabschneiderisch und grausam sie gewesen sein mag – war, dass sie Leuten wie den Borgenichts, die gerade erst an Land gegangen waren, die Chance zu einer sinnvollen Arbeit bot. 18 Nachdem Louis Borgenicht das Mädchen mit der Schürze gesehen hatte, führte er zu Hause einen Freudentanz auf. In diesem Moment hatte er noch keine einzige Schürze verkauft. Er hatte noch immer keinen Pfennig in der Tasche und wusste, dass die Umsetzung seiner Idee Jahre härtester Arbeit bedeutete. Doch er war außer sich vor Freude, denn er sah die Aussicht auf diese Jahre harter Arbeit nicht als Belastung an. Bill Gates hatte dasselbe Gefühl, als er sich in Lakeside zum ersten Mal an den Computer setzte. Und die Beatles zuckten nicht vor Schreck zusammen, als sie hörten |136| , dass sie acht Stunden pro Tag, sieben Tage pro Woche auf der Bühne stehen sollten. Sie ergriffen die Gelegenheit beim Schopf. Harte Arbeit im Gefängnis hat keinerlei Sinn. Wenn harte Arbeit jedoch Sinn hat, dann ist das ein Grund, unseren Partner zu umarmen und einen Freudentanz hinzulegen.
    Die positiven Auswirkungen dieses Textilwunders bekamen jedoch vor allem die Kinder zu spüren, deren Familien sinnvolle Arbeit verrichten konnten. Stellen Sie sich vor, was es für die Kinder von Louis und Regina Borgenicht bedeutet haben muss, den kometenhaften Aufstieg ihrer Eltern mitzuerleben. Sie lernten dieselbe Lektion, die Alex Williams fast ein Jahrhundert später lernen sollte – eine wichtige Lektion für alle, die als Ärzte oder Anwälte bis nach ganz oben kommen wollten: Wenn du hart genug arbeitest und dich durchsetzt, und wenn du deinen Verstand und deine Fantasie gebrauchst, dann kannst du die Welt ganz nach deinen Wünschen gestalten.
    11.
    Im Jahr 1982 besuchte eine Soziologiestudentin namens Louise Farkas eine Reihe von Altenheimen in New York City und Miami Beach. Sie war auf der Suche nach Leuten wie den Borgenichts, oder besser gesagt den Kindern von Leuten wie den Borgenichts, die mit der großen jüdischen Einwanderungswelle Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten ­gekommen waren. Für sämtliche der Befragten erstellte sie einen Familienstammbaum, aus dem hervorging, welchen Berufen ­Eltern, Kinder, Enkel und zum Teil sogar die Urenkel nachgingen.
    Über ihren Informanten Nummer 18 schreibt sie:
    Ein russischer Schneider kommt in die Vereinigten Staaten und arbeitet hier für ein schlechtes Gehalt in einer Näherei. Später nimmt er zugeschnittene Stoffe mit nach Hause, um sie dort zusammen mit seiner Frau |137| und seinen Kindern zu vernähen. Um sein Gehalt aufzubessern, arbeitet er bis spät in die Nacht. Später näht er selbst Kleider und verkauft sie auf den Straßen von New York. Er kann ein wenig Geld auf die Seite legen und eröffnet mit seinem Sohn eine eigene Herrenschneiderei. Der russische Schneider und sein Sohn werden Anzugschneider und beliefern zahlreiche Herrenausstatter … Vater und Sohn werden reich … Die Kinder des Sohnes besuchen die Universität.

    Hier der Stammbaum eines Gerbers, der Ende des 19. Jahrhunderts aus Polen in die Vereinigten Staaten einwanderte:

    Farkas erstellt seitenweise Stammbäume von jüdischen Einwandererfamilien, die einander zum Verwechseln ähnlich sehen. Schließlich ist nur noch eine Schlussfolgerung möglich: Juden wurden nicht trotz ihrer armen Herkunft Ärzte und Anwälte, sondern gerade aufgrund ihrer armen Herkunft.
    Ted Friedman, der prominente Prozessanwalt der Siebziger und Achtzigerjahre, erinnert sich, wie er mit seiner Mutter Konzerte in der Carnegie Hall besuchte. Sie waren arm und lebten in der abgelegensten Ecke der Bronx. Wie konnten sie sich die Eintrittskarten leisten? »Wir haben Mary einen Vierteldollar gegeben«, erzählt Friedman. »Eine gewisse Mary war Kartenabreißerin, und wenn wir ihr einen Vierteldollar gegeben haben, durften wir uns ohne Eintrittskarte auf den obersten Balkon |138| stellen. Es war eine ziemliche Strecke von der Bronx zur Carnegie Hall, aber wir sind ein- oder zweimal im Monat ins Konzert gegangen.« 19
    Friedmans Mutter war eine russische Einwanderin und sprach kaum Englisch. Doch sie hatte seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr als Näherin gearbeitet und war eine bekannte Gewerkschaftsführerin geworden. In einer Position wie dieser lernt man, dass man durch eigene Überzeugungskraft und Initiative seinen Kindern einen Konzertbesuch in der Carnegie Hall ermöglichen kann. Für einen

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