Ueberflieger
sich – aus |133| unternehmerischer Sicht – in großen und kleinen Geschäften sowie in der Stadt und auf dem Land gleich gut verkaufen würden. Zusammen mit Regina – sie hatte immer einen ausgezeichneten Geschmack – entwarf ich verschiedene Modelle. Als ich diese meinen »alten« Kunden und Freunden vorstellte, bläute ich ihnen immer wieder die Verkaufsargumente ein: Die Kleider bedeuteten eine große Arbeitserleichterung für die Mütter, Material und Verarbeitung waren mindestens so gut wie das, was sie zu Hause herstellen konnten, wenn nicht besser, und durch den attraktiven Preis ließen sie sich rasch verkaufen.
Irgendwann erkannte Borgenicht, dass er größere Hersteller nur dann unterbieten konnte, wenn er die Zwischenhändler umging und einen Großhändler fand, der direkt an ihn verkaufte. Also suchte er einen gewissen Mr. Bingham bei Lawrence and Company auf, »einen großen, hageren Yankee mit weißem Bart und stahlblauen Augen«. Da stand also der polnische Einwanderer mit den vor Müdigkeit geränderten Augen und verhandelte in gebrochenem Englisch mit dem herrischen Yankee. Borgenicht wollte 40 Kisten Kaschmir. Bingham hatte noch nie direkt an eine Näherei verkauft, schon gar nicht an eine Schnürsenkelfirma aus der Sheriff Street.
»Was glauben Sie, wer Sie sind, dass Sie hierher kommen und mich um Gefälligkeiten bitten«, schnaubte Bingham. Doch schließlich sagte er zu.
Während seines 18-Stunden-Tags erhielt Borgenicht eine Einführung in die moderne Wirtschaft. Er lernte Marktforschung, Herstellung und Verhandlungsführung mit arroganten Yankees. Außerdem lernte er, die Alltagskultur zu verstehen und neue Modetrends zu erkennen.
Die irischen und italienischen Einwanderer, die zur selben Zeit nach New York kamen, hatten diesen Vorteil nicht. Sie hatten keine Qualifikationen, die ihnen in der städtischen Wirtschaft weitergeholfen hätten. Sie verdingten sich als Tagelöhner, Hausangestellte und Bauarbeiter – Anstellungen, in denen man 30 Jahre lang tätig sein konnte, ohne jemals etwas von Marktforschung, Herstellung |134| und Alltagskultur mitzubekommen oder zu lernen, wie man mit den Yankees verhandelte, die die Welt beherrschten.
Oder nehmen wir als weiteres Gegenbeispiel das Schicksal der Mexikaner, die zwischen 1900 und Ende der Zwanzigerjahre nach Kalifornien einwanderten, um dort auf den Feldern der großen Obst- und Gemüseplantagen zu arbeiten. Sie vertauschten lediglich das Leben eines Leibeigenen in Mexiko gegen das Leben eines Leibeigenen in Kalifornien. »Die Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsindustrie waren keineswegs besser«, fährt Soyer fort. »Aber als Näher war man dichter am Herz der Branche. Wer auf einem Feld in Kalifornien arbeitet, hat keine Ahnung, was mit dem Obst und Gemüse passiert, sobald es auf dem Lastwagen liegt. Die Mitarbeiter in einer kleinen Kleiderfabrik verdienen zwar auch nur wenig, aber sie können genau verfolgen, was die Erfolgreichen anstellen, und sie haben die Möglichkeit, ihr eigenes Unternehmen zu gründen.« 17
Wenn Borgenicht abends nach Hause kam, dann war er zwar müde und arm, aber er war lebendig. Er war sein eigener Herr, traf seine eigenen Entscheidungen und gab seine eigene Richtung vor. Seine Arbeit war anspruchsvoll und forderte seinen Verstand und seine Fantasie. Außerdem bestand ein klarer Zusammenhang zwischen Einsatz und Belohnung: Je länger er und Regina nachts an den Nähmaschinen saßen, desto mehr Geld verdiente er am nächsten Tag auf der Straße.
Diese drei Dinge – Autonomie, eine anspruchsvolle Tätigkeit und ein Zusammenhang zwischen Einsatz und Belohnung – sind |135| nach Ansicht der meisten Menschen die Grundbedingungen für eine befriedigende Arbeit. Es ist nicht unser finanzieller Verdienst, der uns am Arbeitsplatz glücklich macht. Es ist die Frage, ob unsere Arbeit uns erfüllt. Wenn Sie die Wahl hätten, als Architekt 75 000 Dollar pro Jahr zu verdienen oder in einem Schrankenwärterhäuschen zu sitzen und 100 000 Dollar pro Jahr zu bekommen – was würden Sie wählen? Ich nehme an, Ersteres, aufgrund der anspruchsvollen Tätigkeit und der Autonomie, und weil die kreative Arbeit einen direkten Zusammenhang zwischen Einsatz und Belohnung herstellt. Das ist den meisten von uns wichtiger als Geld.
Arbeit, die diesen drei Kriterien entspricht, empfinden wir als sinnvoll. Lehrer zu sein ist sinnvoll. Arzt zu sein ist sinnvoll. Und Unternehmer zu sein ist ebenfalls sinnvoll. Das Wunder der
Weitere Kostenlose Bücher