Ueberflieger
Stephen Steinberg. »Um diese Chance zu nutzen, musste man bestimmte Qualitäten mitbringen, und diese Einwanderer waren ausgezeichnete Arbeiter. Sie brachten Opfer. Sie knauserten, sparten und investierten geschickt. Natürlich wuchs die Bekleidungsindustrie damals explosionsartig. In der Wirtschaft wurden genau die Qualifikationen nachgefragt, die sie mitbrachten.«
Louis und Regina Borgenicht und die Tausende anderen, die mit |131| ihnen auf den Dampfern nach Amerika auswanderten, bekamen eine goldene Chance. Und mit ihnen ihre Kinder und Enkelkinder, denn die Lektionen, die diese Eltern von der Arbeit mit nach Hause brachten, waren entscheidend für ihren Erfolg.
10.
Am Tag, nachdem Louis und Regina Borgenicht ihre ersten 40 Schürzen verkauft hatten, wurde Louis bei H. B. Claflin and Company vorstellig. Claflin war, ähnlich wie Brandstatter in Polen, Kommissionär für Kurzwaren. Dort fragte Borgenicht nach einem Verkäufer, der Deutsch sprach, denn er verstand so gut wie kein Wort Englisch. In der Tasche hatte er 125 Dollar, die gesamten Ersparnisse der Familie, und mit diesem Geld kaufte er Stoff für zehn Dutzend Schürzen. Tag und Nacht schnitten er und Regina die Stoffe zu und nähten. Innerhalb von zwei Tagen waren die Schürzen ausverkauft. Wieder ging Louis zu Claflin. Auch die neuen Schürzen gingen schnell weg. Schon bald stellten die beiden eine Frau, die wie sie gerade in Amerika angekommen war, ein, um auf die Kinder aufzupassen, damit Regina den ganzen Tag über nähen konnte. Wenig später kam ein Mädchen als Lehrling dazu. Louis ging bis nach Harlem und verkaufte die Schürzen an die Mütter in den Mietskasernen. Er mietete einen Laden an der Sheriff Street, der im hinteren Teil Wohnräume hatte. Dann stellte er drei weitere Mädchen ein und kaufte für jede eine Nähmaschine. Er wurde als »Schürzenmann« bekannt. Louis und Regina kamen kaum noch mit der Herstellung nach.
Es dauerte nicht lange und die Borgenichts erweiterten ihr Programm. Sie schneiderten Schürzen für Erwachsene, Unterröcke und schließlich auch Frauenkleider. Sie hatten eine eigene Fabrik im Manhattaner Stadtteil Lower East Side und eine immer länger werdende Liste von Kunden, darunter einen Laden, der einer weiteren jüdischen Einwandererfamilie gehörte: den Bloomingdale-Brüdern. Damals waren die Borgenichts gerade einmal drei Jahre |132| im Land. Sie sprachen kaum Englisch. Und sie waren weit vom Wohlstand entfernt. Was sie verdienten, butterten sie sofort wieder in ihr Unternehmen, und Louis Borgenicht berichtet, sie hätten damals höchstens 200 Dollar auf dem Konto gehabt. Aber sie hatten ihr Schicksal selbst in die Hand genommen.
Das war der zweite große Vorteil der Bekleidungsindustrie. Sie wuchs nicht nur sprunghaft, sie bot auch Möglichkeiten für freies Unternehmertum. Kleider wurden nicht in großen Fabriken hergestellt. Stattdessen entwickelten einige etablierte Firmen neue Entwürfe und bereiteten die Stoffe vor, um dann die komplizierte Fertigung, das Bügeln und das Annähen der Knöpfe an kleinere Vertragsfirmen abzugeben. Wenn diese Vertragsfirmen groß oder ehrgeizig genug waren, entwarfen sie ihre eigenen Modelle und schnitten die Stoffe selbst zu. Im Jahr 1913 gab es rund 16000 eigenständige Unternehmen in der New Yorker Textilbranche, von denen viele dem Laden der Borgenichts in der Sheriff Street ähnelten.
»Der Einstieg ins Textilgewerbe war einfach. Es reichte eine Nähmaschine, und die war billig«, erklärt der Historiker Daniel Soyer, der sich ausführlich mit der Geschichte der Textilbranche beschäftigt hat. »Es war also kaum Kapital nötig. Anfang des 20. Jahrhunderts reichten 50 Dollar, um ein oder zwei Maschinen zu kaufen. Als Vertragsnehmer brauchte man an ein paar Nähmaschinen, Bügeleisen und ein paar Mitarbeiter. Die Gewinne waren bescheiden, aber es ließ sich ein bisschen Geld verdienen.«
Und so beschreibt Borgenicht seine Entscheidung, über die Schürzen hinaus zu expandieren:
Ich hatte den Markt beobachtet und wusste, dass es im Jahr 1890 nur drei Firmen gab, die Kinderbekleidung herstellten. Einer war ein Schneider an der East Side, ganz in unserer Nähe, der nur Maßbekleidung anfertigte, und die anderen beiden stellten so teure Waren her, dass ich nicht mit ihnen in Konkurrenz treten wollte. Ich wollte preisgünstige Bekleidung herstellen – aus Baumwolle, Seide und Wolle. Ich wollte Kleider verkaufen, die sich die Mehrheit der Menschen leisten konnte und die
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