Ueberflieger
herum.
»Du musst mir helfen!«, rief er. »Wir arbeiten zusammen!
Das
ist unser Geschäft
!«
9.
Jüdische Einwanderer wie die Floms, die Borgenichts und die Janklows unterschieden sich von den anderen Einwanderern, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten kamen. Die Iren und Italiener waren Bauern aus verarmten ländlichen Regionen Europas. Anders die Juden. Jahrhundertelang hatten sie in Europa kein Land besitzen dürfen, weshalb sie sich in den Städten konzentrierten und Handwerksberufe ausübten. Etwa 70 Prozent aller osteuropäischen Juden, die in den drei Jahrzehnten vor Beginn des Ersten Weltkriegs über Ellis Island in die Vereinigten Staaten kamen, hatten einen Beruf gelernt. Sie hatten kleine Lebensmittelläden oder Schmuckgeschäfte besessen. Die meisten |129| kamen jedoch aus dem Bekleidungsgewerbe. Sie waren Herren und Damenschneider, Hut- und Mützenmacher, Kürschner und Gerber.
Louis Borgenicht hatte beispielsweise im Alter von zwölf Jahren das Haus seiner verarmten Eltern verlassen, um als Verkäufer in einem Gemischtwarenladen in der polnischen Ortschaft Brzesko zu arbeiten. Als sich eine Möglichkeit bot, in einer Schnittwarenhandlung anzufangen, griff er zu. »Die Schnittwarenhändler kleideten damals die Welt ein«, schreibt er. »Von den drei für das Leben in einer einfachen Gesellschaft erforderlichen Dingen waren Essen und Wohnen bescheiden. Bekleidung war dagegen etwas Vornehmes. Vertreter des Bekleidungsgewerbes – Händler von kostbaren Stoffen aus ganz Europa, Handlungsreisende, die auf ihren jährlichen Einkaufsreisen die Industriezentren besuchten – waren in meiner Jugend fürstliche Kaufleute. Ihre Stimmen wurden gehört, sie hatten Gewicht.«
Borgenicht lernte in einem Tuchladen, der einem Mann namens Epstein gehörte, und wechselte dann in den Nachbarort Jaslow in den Laden eines Mannes namens Brandstatter. Dort wurde der junge Borgenicht mit den Dutzenden von Stoffarten derart vertraut, dass er mit der Hand über einen Stoff streichen und dessen Fadenzahl, Herkunftsort und Hersteller nennen konnte. Einige Jahre später zog Borgenicht nach Ungarn, wo er Regina kennenlernte. Sie hatte seit dem sechzehnten Lebensjahr eine eigene Damenschneiderei geführt. Die beiden eröffneten eine Reihe kleiner Tuchläden und lernten so von der Pike auf, was es bedeutet, ein Kleinunternehmen zu führen.
Der Einfall, den Louis Borgenicht auf seiner Kiste in der Hester Street hatte, kam also nicht von ungefähr. Er war ein Veteran des Tuchgewerbes und seine Frau eine erfahrene Schneiderin. Das war ihr Handwerk. Und während die Borgenichts ihre kleine Wohnung in New York in eine Werkstatt verwandelten, nutzten mit ihnen Tausende anderer jüdischer Einwanderer ihre Fähigkeiten als Näher und Schneider, sodass bis zum Jahr 1900 die Bekleidungsindustrie |130| fast vollständig in der Hand der osteuropäischen Einwanderer war. Die Juden »nahmen einen großen Bissen des gastfreundlichen Landes und arbeiteten wie Verrückte auf dem Gebiet, das sie am besten beherrschten«, wie Borgenicht schreibt.
Heute liegt New York inmitten einer riesigen und wirtschaftlich stark diversifizierten Metropolregion, und man vergisst leicht, wie wichtig die Fähigkeiten waren, die Einwanderer wie die Borgenichts in die Neue Welt mitbrachten. Zwischen dem Ende des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts war die Bekleidungsindustrie die dynamischste Branche der Stadt. In der Kleiderfabrikation waren mehr Menschen beschäftigt als in irgendeinem anderen Gewerbe, und in New York wurde mehr Bekleidung hergestellt als in irgendeiner anderen Stadt der Welt. Die typischen Gebäude, wie sie bis heute den südlichen Teil des Broadway in Manhattan säumen – von den zehn- bis fünfzehnstöckigen Lagerhäusern in den 20 Straßenzügen unterhalb des Times Square bis zu den gusseisernen Dachetagen von Soho und Tribeca –, beherbergten fast durchweg Mantelschneider, Hutmacher und Dessoushersteller, und in ihren großen Räumen saßen zahllose Männer und Frauen über ihre Nähmaschinen gebeugt. Wer in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts nach New York kam und Erfahrung im Nähen und Schneidern mitbrachte, hatte außerordentliches Glück. Es war so, als wäre man 1976 mit 10 000 Stunden Programmiererfahrung nach Silicon Valley gekommen.
»Es besteht kein Zweifel, dass die jüdischen Einwanderer zur richtigen Zeit und mit den richtigen Fähigkeiten nach New York kamen«, meint der Soziologe
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