Ueberflieger
Howard, der eine Menge Blut an den Händen hatte, hinter Schloss und Riegel gehört. Aber was wirklich in Harlan passierte, das können Sie erst verstehen, wenn Sie diese Gewaltorgie in einem größeren Zusammenhang betrachten.
Dazu müssen Sie wissen, dass just zu der Zeit, als sich die Howards und die Turners gegenseitig abmetzelten, in den gesamten Appalachen ähnliche Auseinandersetzungen tobten. In der berüchtigten Fehde zwischen den Hatfields und den McCoys an der Grenze zwischen Kentucky und West Virginia, unweit von Harlan, kamen im Laufe von mehr als zwei Jahrzehnten Dutzende Menschen ums Leben. In der Auseinandersetzung zwischen den French und den Eversoles in Perry County in Kentucky wurden zwölf Menschen erschossen, davon allein sechs von »Bad Tom« Smith (einem Mann, »gerade dumm genug, um furchtlos, und gerade klug genug, um gefährlich zu sein, und dazu ein todsicherer |149| Schütze«, wie ihn John Ed Pearce in
Days of Darkness
beschreibt). In der Familienfehde zwischen den Martins und den Tollivers in Rowan County, ebenfalls in Kentucky, kam es zu drei Schießereien, drei Hinterhalten, zwei Angriffen auf Wohnhäuser und einem Feuergefecht, das mehr als zwei Stunden dauerte und an dem mehr als 100 Menschen beteiligt waren. Die Fehde zwischen den Bakers und den Howards in Clay County in Kentucky begann im Jahr 1806 mit einer unglücklichen Elchjagd und endete erst in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts, als einige Howards drei Bakers in einem Hinterhalt erschossen.
Und dies sind nur einige der bekannteren Fehden. Auf einer Rundreise stattete der Kongressabgeordnete Harry Caudill einem Gericht in einer Ortschaft auf dem Cumberland-Plateau einen Besuch ab und erfuhr, dass dort zwischen dem Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs im Jahr 1865 und dem Beginn des 20. Jahrhunderts über 1 000 Morde begangen worden waren – und das in einer Gegend, in der nie mehr als 15 000 Menschen lebten und in der vermutlich viele Verbrechen nicht zur Anzeige gebracht wurden. Caudill beschreibt einen Mordprozess in Breathitt County – auch bekannt als »Bloody Breathitt« –, der abrupt endete, als der Vater des Angeklagten, »ein Mann von ungefähr 50 Jahren mit einem mächtigen Schnauzbart und zwei schweren Revolvern«, auf den Richter zuging und ihn am Kragen packte:
Der Mann schlug auf den Tisch und verkündete: »Das Gericht ist geschlossen, ihr könnt nach Hause gehen. Hier findet dieses Jahr kein Gericht mehr statt, Leute.« Mit hochrotem Kopf fügte sich der Richter dem außergewöhnlichen Beschluss und verließ den Ort eilig. Als das Gericht im darauffolgenden Jahr wieder einberufen wurde und Richter und Sheriff sechs Milizsoldaten zu Verstärkung mitgebracht hatten, stand der Angeklagte nicht mehr zur Verfügung. Er war in einem Hinterhalt erschossen worden.
Wenn eine Familie mit einer anderen im Clinch liegt, dann spricht man von einer Fehde. Wenn viele Familien in identischen kleinen |150| Ortschaften derselben Bergregion miteinander im Clinch liegen, dann kann man von einem Muster sprechen.
Was war jedoch die Ursache für dieses Muster von Familienkriegen in den Appalachen? Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte wurden viele mögliche Ursachen untersucht und erörtert. Es scheint ein Konsens darüber zu bestehen, dass die Region von einer besonders ansteckenden Variante eines Phänomens befallen war, das Soziologen als »Kultur der Ehre« bezeichnen.
»Kulturen der Ehre« sind häufig in Bergregionen und unfruchtbaren Gegenden wie dem Landesinneren von Sizilien oder dem spanischen Baskenland beheimatet. Im felsigen Bergland lasse sich kein Ackerbau betreiben, so die Erklärung. Die Bewohner hielten Ziegen oder Schafe, und die Kultur der Hirten unterscheide sich ganz erheblich von der Kultur der Ackerbauern. Ein Bauer sei auf die Zusammenarbeit mit anderen in der Gemeinschaft angewiesen. Ein Hirte sei dagegen auf sich selbst gestellt. Bauern müssten sich zudem keine Sorgen machen, dass ihnen über Nacht ihre Lebensgrundlage abhanden komme, da sich die Ernte schlecht stehlen lasse – es sei denn, ein Dieb wolle sich die Mühe machen, ein Feld allein abzuernten. Ein Hirte müsse sich dagegen sehr wohl Sorgen machen, denn er laufe ständig Gefahr, seine Tiere und damit sein ganzes Hab und Gut zu verlieren. Also verhalte er sich aggressiv: Er müsse mit Worten und Taten deutlich machen, dass er kein Schwächling sei. Er müsse bereit sein, auf jede noch so kleine Herausforderung hin seinen Ruf zu
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