Ueberflieger
verteidigen. Das ist mit dem Begriff »Kultur der Ehre« gemeint: Es handelt sich um eine Welt, in der das Ansehen eines Mannes die Grundlage seines Lebensunterhalts und seines Selbstwertgefühls darstellt.
»Für die Reputation eines Schafhirten ist sein erster Kampf der alles entscheidende Moment«, schreibt der Ethnologe J. K. Campbell über eine Hirtenkultur in Griechenland. »Auseinandersetzungen finden immer in der Öffentlichkeit statt. Das kann im Café sein, auf dem Dorfplatz, vor allem aber an Weidegrenzen, wo ein Fluch oder ein Stein, den der andere Schafhirte nach den eigenen |151| Tieren wirft, eine Beleidigung darstellt, die eine gewalttätige Antwort erfordert.«
Warum also waren die Appalachen so, wie sie waren? Aufgrund der Herkunft der ersten europäischen Siedler. Das Hinterland der Vereinigten Staaten, das sogenannte »backcountry«, das sich von der Südgrenze Pennsylvanias in Richtung Süden und Westen über Virginia, West Virginia, Kentucky, Tennessee, North Carolina und South Carolina bis hinunter ins nördliche Alabama und Georgia erstreckt, wurde überwiegend von Angehörigen einer der grimmigsten Kulturen der Ehre besiedelt: den Schotten und Iren aus dem südschottischen Tiefland, Nordengland und der Region Ulster in Nordirland.
Diese abgelegenen und gesetzlosen Grenzregionen, aus denen die Siedler kamen, waren jahrhundertelang umkämpft worden. Die Menschen dieser Gegend waren in einer Kultur der Gewalt aufgewachsen. Sie waren Hirten, die dem felsigen Land einen spärlichen Lebensunterhalt abtrotzten. Sie reagierten auf ihre unwirtliche und gefährliche Umwelt, indem sie sich zu Clans zusammenschlossen und Blutsbande über alles stellten. Nach ihrer Auswanderung in die Neue Welt zogen sie in abgelegene, gesetzlose und karge Bergregionen im Landesinneren, wie etwa Harlan, wo sie ihre Kultur der Ehre aus der Alten Welt weiterleben konnten.
»Für die ersten Siedler war das Hinterland eine gefährliche Umgebung, genau wie es der Norden der britischen Inseln gewesen war«, schreibt der Historiker David Hackett Fischer in seinem Buch
Albion’s Seed
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Der Süden der schottischen Highlands war umkämpftes Grenzland ohne jede staatliche Ordnung. Die Bewohner dieser Region waren in dieser anarchischen Umwelt mehr zu Hause als andere, sie entsprach ihrer Familienstruktur, ihrem Kriegerethos, ihrer Hirtenwirtschaft, ihrer Auffassung von Land und Reichtum und ihren Vorstellungen von Arbeit und Macht. Ihre Kultur war so gut an ihre Umwelt angepasst, dass sie von anderen ethnischen Gruppierungen kopiert wurde. Die Vertreter des Grenzethos beherrschten dieses »finstere und blutige Land«, zum einen aufgrund ihrer |152| schieren Zahl, zum anderen, weil ihre Kultur in dieser rauen und gefährlichen Umwelt das Überleben sicherte. 20
Das Fortbestehen dieser Kultur der Ehre erklärt, warum die Kriminalität im Südosten der Vereinigten Staaten ein anderes Muster aufweist als im Rest des Landes. Hier sind die Mordraten erheblich höher, dafür kommt es seltener zu Eigentumsdelikten und Verbrechen wie Raub und Diebstahl. Wie der Soziologe John Shelton Reed schreibt: »Der Süden scheint sich auf Morde zu spezialisieren, in denen das Opfer den Täter und die Gründe für die Tat kennt.« Und er fügt hinzu: »Die Statistiken zeigen, dass Südstaatler, die Streit und Ehebruch aus dem Weg gehen, so sicher leben wie jeder andere Bürger der Vereinigten Staaten, wenn nicht sicherer.« Im Hinterland war das Motiv für Gewalt nicht die persönliche Bereicherung. Es ging vielmehr um persönliche Angelegenheiten und um die Ehre.
Vor vielen Jahren erinnerte sich der Journalist Hodding Carter aus Louisiana an seine Zeit als Geschworener zurück:
Wir hatten über den Fall eines jähzornigen Mannes zu entscheiden, der neben einer Tankstelle wohnte. Die Tankwarte und verschiedene Gammler und Faulenzer, die an der Zapfsäule herumhingen, hatten ihn über Monate zur Zielscheibe ihrer Frotzeleien gemacht, obwohl er sie immer wieder gewarnt hatte und obwohl er für seine Unbeherrschtheit bekannt war. Eines Morgens schoss er mit seiner zweiläufigen Flinte auf seine Peiniger, tötete |153| einen, verstümmelte einen anderen und verletzte einen dritten … Als die Geschworenen dem ungläubigen Richter das Urteil präsentierten, hatte ich als Einziger mit »schuldig« gestimmt. Einer der anderen Geschworenen erklärte: »Er wäre kein echter Mann gewesen, wenn er die Kerle nicht erschossen hätte.«
Nur in einer Kultur
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