Ueberflieger
der Ehre konnte der jähzornige Nachbar auf den Gedanken verfallen, dass der Gebrauch einer Schusswaffe eine angemessene Antwort auf eine Beleidigung sein könnte. Und nur in einer Kultur der Ehre konnte ein Geschworenengericht zu dem Schluss kommen, dass ein Mord unter diesen Umständen kein Verbrechen darstellte.
Mir ist vollkommen klar, dass wir derartigen Verallgemeinerungen über eine Kultur skeptisch gegenüberstehen, und das aus gutem Grund. Genau so sehen diskriminierende Vorurteile aus. Außerdem reden wir uns gern ein, dass wir nicht in der Geschichte unserer jeweiligen Kultur gefangen sind.
Doch um zu verstehen, was sich im 19. Jahrhundert in diesen Kleinstädten in Kentucky abspielte,
müssen
wir in die Vergangenheit zurückgehen – und zwar nicht nur eine oder zwei Generationen. Wir müssen 200 oder 300 Jahre zurückgehen, uns ein Land auf der anderen Seite des Atlantik ansehen und verstehen, womit die Bewohner einer bestimmten Region ihren Lebensunterhalt verdienten. Die Hypothese einer »Kultur der Ehre« besagt, dass es sehr wohl eine Rolle spielt, woher wir kommen, und zwar nicht nur, wo wir oder unsere Eltern aufgewachsen sind, sondern auch, wo unsere Urgroßeltern, unsere Ur-Urgroßeltern oder vielleicht sogar unsere Ur-Ur-Urgroßeltern herkamen. Das ist eine Tatsache, um die wir nicht herumkommen. Das ist allerdings nur der Anfang. Erst ein zweiter Blick verrät, wie tief unser kulturelles Erbe wirklich verwurzelt ist.
3.
Anfang der Neunzigerjahre führten die Psychologen Dov Cohen und Richard Nisbett von der University of Michigan ein Experiment |154| durch, um der Kultur der Ehre auf den Grund zu gehen. Sie wussten, dass die Ereignisse in Orten wie Harlan mit großer Wahrscheinlichkeit auf ein Verhaltensmuster zurückgingen, das Jahrhunderte zuvor im Grenzgebiet zwischen Schottland und England entstanden war. Doch in ihrem Experiment wollten sie die Gegenwart erforschen. War es möglich, noch heute Überbleibsel dieser Kultur der Ehre zu entdecken? Um dies herauszufinden, beschlossen die Psychologen, eine Testgruppe junger Männer zusammenzustellen und diese gezielt zu beleidigen. »Wir setzten uns zusammen und überlegten, welche Beleidigung einen Achtzehn- bis Zwanzigjährigen ins Mark treffen würde«, berichtet Cohen. »Wir brauchten nicht lange, um uns für ›Arschloch‹ zu entscheiden.«
Das Experiment verlief wie folgt. Im Keller des Gebäudes der Sozialwissenschaften an der University of Michigan befindet sich ein langer, schmaler Korridor, der rechts und links von Aktenschränken gesäumt ist. Die jungen Männer wurden einzeln in einen Kursraum gebeten, wo sie einen Fragebogen ausfüllen sollten. Dann wurden sie aufgefordert, diesen Fragebogen in einem Büro am anderen Ende des Ganges abzugeben und wieder in den Kursraum zurückzukommen – eine einfache und scheinbar unschuldige akademische Übung.
Für die Hälfte der Versuchspersonen war es das in der Tat. Sie gehörten der Kontrollgruppe an. Für die andere Hälfte nahm das Experiment jedoch eine unvorhergesehene Wende. Während sie mit dem Fragebogen in der Hand den Gang entlanggingen, eilte ein Mann – ein Komplize der Wissenschaftler – an ihnen vorüber und zog die Schublade eines der Aktenschränke auf. Damit wurde der ohnehin schon schmale Gang vollends unpassierbar. Als sich der junge Mann vorbeizwängen wollte, blickte der Komplize ärgerlich auf. Er schloss den Schrank mit lautem Knall, rempelte den jungen Mann mit der Schulter an und sagte leise, aber gut hörbar das entscheidende Wort: »Arschloch«.
Cohen und Nisbett wollten so genau wie möglich messen, was es für einen Studenten bedeutete, so beschimpft zu werden. Nachdem |155| die Testpersonen in den Kursraum zurückgekommen waren, sahen sie sich deren Gesichter an und schätzten, wie viel Ärger diese zum Ausdruck brachten. Sie gaben den jungen Männern die Hand, um zu sehen, ob ihr Händedruck fester war als üblich. Sie nahmen vor und nach der Beleidigung Speichelproben, um zu messen, ob die Beleidigung einen Anstieg beim Testosteron und Cortisol – zweier Hormone, die Erregung und Aggression steuern – bewirkt hatte. Schließlich baten sie die Testpersonen, folgende Geschichte zu lesen und zu Ende zu schreiben:
Sie waren noch keine 20 Minuten auf der Party, als eine offensichtlich verärgerte Jill ihren Verlobten Steve beiseite nahm.
»Was ist los?«, fragte Steve.
»Dieser Larry. Der weiß doch ganz genau, dass wir verlobt sind, aber er hat mich
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