Ueberflieger
nicht zu lösen. Die Antworten reichten von 30 Sekunden bis 5 Minuten, der Durchschnitt lag bei 2 Minuten.
Doch Renee lässt nicht locker. Sie experimentiert, geht wieder und wieder über dieselbe Frage, denkt laut und lässt sich nicht beirren. Sie ahnt, dass mit ihrer Annahme darüber, wie man eine senkrechte Linie herstellt, irgendetwas nicht stimmen kann, und sie lässt nicht locker, ehe sie nicht die Antwort gefunden hat.
Renee ist kein Mathematikgenie. Abstrakte Vorstellungen wie die Steigung einer Geraden und die Unendlichkeit sind ihr eher fremd. Doch Schoenfeld findet ihre Leistung eindrucksvoll.
»Sie hat den unbedingten Willen, die Sache zu verstehen«, sagt er. »Sie gab sich nicht mit einem oberflächlichen ›ja, stimmt‹ zufrieden |216| . Sie ist anders. Und genau das ist das Ungewöhnliche.« Er spult das Band zurück zu einem Moment, an dem Renee überrascht auf den Bildschirm starrt.
»Schauen Sie, sie sieht zwei Mal hin. Die meisten Schüler wären einfach darüber hinweggegangen. Aber sie denkt sich, ›das passt nicht zu dem, was ich gedacht habe. Das verstehe ich nicht. Das ist wichtig. Das will ich verstehen.‹ Und wenn sie es versteht, sagt sie, ›ja, das passt.‹«
An der Universität von Berkeley unterrichtet Schoenfeld einen Kurs in problemlösendem Denken. Der einzige Zweck dieses Kurses besteht seiner Ansicht nach darin, den Studenten die schlechten Denkgewohnheiten auszutreiben, die sie sich auf dem Weg zur Universität angeeignet haben. »In den Prüfungen stelle ich eine Aufgabe, deren Lösung ich selbst nicht kenne«, erzählt er. »Ich sage meinen Studenten: ›Ihr habt zwei Wochen Zeit, um die Aufgabe zu lösen. Ich kenne eure Angewohnheiten. Ihr lasst die Prüfung eine Woche lang liegen und fangt in der zweiten Woche an. Aber ich warne euch im Voraus: In einer Woche werdet ihr die Aufgabe nicht lösen können. Wenn ihr gleich damit anfangt, kommt ihr wahrscheinlich frustriert zu mir und sagt mir: ›Das ist unlösbar‹. Aber ich sage euch, macht einfach weiter, und in der zweiten Woche werdet ihr deutliche Fortschritte erkennen.«
Wir glauben oft, man müsse ein Genie sein, um Mathematik zu kapieren – entweder man hat »es«, oder man hat es eben nicht. Schoenfeld ist dagegen der Ansicht, es sei weniger eine Frage der Fähigkeiten als eine Frage der Einstellung. Wer bereit ist, sich anzustrengen, kann Mathematik beherrschen. Erfolg ist das Ergebnis von Ausdauer, Hartnäckigkeit und der Bereitschaft, sich 22 Minuten lang an einem Problem abzuarbeiten, das die meisten Menschen schon nach 30 Sekunden hinwerfen würden. Stellen Sie sich ein Klassenzimmer voller Renees vor, die Raum und Zeit bekommen, selbst mit mathematischen Aufgabestellungen zu experimentieren – das wäre ein gewaltiger Fortschritt. Oder stellen Sie sich ein Land vor, in dem Renees Ausdauer nicht die Ausnahme ist, |217| sondern so tief in der Kultur verwurzelt ist wie der Ehrenkodex auf dem Cumberland-Plateau. Das wäre in der Tat ein Land, das gute Noten in Mathematik erzielt.
7.
Alle vier Jahre gibt eine internationale Gruppe von Bildungswissenschaftlern einen allgemeinen Mathematik- und Naturwissenschaftstest für Schüler der Grund- und Mittelstufe heraus. Dieser Test nennt sich TIMSS und dient dem Zweck, internationale Bildungsstandards miteinander zu vergleichen.
Daneben müssen alle TIMSS-Teilnehmer einen allgemeinen Fragebogen ausfüllen, in dem sie unter anderem Angaben zum Bildungsniveau ihrer Eltern, zu ihrer eigenen Einstellung zur Mathematik und zu ihren Freunden machen sollen. Dieser Fragebogen ist keine einfache Übung. Er beinhaltet rund 120 Fragen und ist so lang und anstrengend, dass viele Kinder 10 bis 20 Fragen überspringen.
Die Anzahl der Fragen, die Kinder im Durchschnitt auf dem Begleitfragebogen auslassen, unterscheidet sich ja nach Land. Es ist sogar möglich, die teilnehmenden Länder danach zu ordnen, wie vollständig die Schüler den Fragebogen beantworten. Und jetzt wird es spannend: Diese Rangfolge beim Ausfüllen des Begleitfragebogens entspricht fast exakt der Rangfolge der Länder beim eigentlichen Leistungsvergleich in Mathematik. Mit anderen Worten: Diejenigen Kinder, die bereit sind, lange genug still zu sitzen und jede einzelne Frage eines schier endlosen Fragebogens zu beantworten, sind genau die Kinder, welche die Mathematikaufgaben am besten lösen.
Der Erziehungswissenschaftler Erling Boe von der University of Pennsylvania stolperte eher durch Zufall über
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