Ueberflieger
länger.
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|220| Kapitel 9
Maritas Handel
»Ich habe jetzt nur noch Freunde vom KIPP.«
1.
Mitte der Neunzigerjahre öffnete eine staatliche Versuchsschule namens KIPP-Academy in der vierten Etage der Lou Gehrig Junior High School in New York City ihre Türen. 32 Die Schule befindet sich im Süden der Bronx, eines der ärmsten Stadtteile von New York City. Gegenüber dem langgestreckten, grauen Gebäude aus den Sechzigerjahren befindet sich eine Zeile trostloser Wohnsilos. Einige Straßen weiter verläuft die Stadtautobahn Grand Concourse. Es ist kein Wohnviertel, in dem man nach Einbruch der Dunkelheit gern allein auf die Straße geht.
KIPP ist eine Mittelschule für die Jahrgangsstufen 5 bis 8. Die Klassen sind groß: Die fünfte Klasse besteht aus zwei Gruppen mit je 35 Kindern. Es gibt keine Eingangsprüfung und keine Zulassungsvoraussetzungen. Die Schüler werden in einem Losverfahren ausgewählt, und jedes Kind, das in der Bronx lebt und die vierte Klasse besucht, kann sich bewerben. Die Schüler sind jeweils zur Hälfte Afroamerikaner und Latinos. Drei Viertel der Kinder leben bei einem alleinerziehenden Elternteil. Rund 90 Prozent haben Anspruch auf kostenlose oder ermäßigte Schulspeisung, das heißt, ihre Familien sind so arm, dass die Regierung einen Zuschuss gibt, damit die Kinder ein vernünftiges Mittagessen bekommen.
|221| Rein äußerlich erinnert die KIPP-Academy an die Art Schule mit der Art Schüler, die jeden Lehrer zur Verzweiflung bringt. Aber schon beim Betreten der Räumlichkeiten wird deutlich, dass hier irgendetwas anders ist. Die Kinder gehen still und im Gänsemarsch durch die Gänge. Sie haben gelernt, im Unterricht nach einem festen Protokoll miteinander zu kommunizieren: Sie lächeln, sitzen aufrecht, hören zu, fragen nach, stellen Augenkontakt her und nicken, wenn andere mit ihnen sprechen. An den Wänden der Flure hängen Hunderte Wimpel der Universitäten, auf denen KIPP-Absolventen studiert haben. Im Vorjahr meldeten Hunderte Familien ihre Kinder zur Verlosung von 48 Plätzen der fünften Klasse an. Es ist keineswegs übertrieben zu behaupten, dass die KIPP-Academy in den etwas mehr als zehn Jahren ihres Bestehens eine der begehrtesten staatlichen Schulen in ganz New York City geworden ist.
KIPP hat seinen ausgezeichneten Ruf vor allem aufgrund seines Mathematikunterrichts. Im Süden der Bronx erreichen nur 16 Prozent aller Mittelschüler im nationalen Jahrgangsvergleich durchschnittliche oder überdurchschnittliche Leistungen in Mathematik. Dagegen geben viele KIPP-Schüler nach Abschluss der fünften Klasse an, Mathematik sei ihr Lieblingsfach. Schon in der siebten Klasse beginnen die Kinder mit Algebra der Oberstufe. Am Ende der achten Klasse erreichen 84 Prozent aller Schüler im nationalen Vergleich durchschnittliche oder überdurchschnittliche Leistungen in Mathematik. Das heißt, dass diese nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Kinder aus sozial benachteiligten Familien, die in heruntergekommenen Wohnblocks in einem der verrufensten Stadtteile des ganzen Landes leben und deren Eltern in den seltensten Fällen auch nur einen Fuß in eine Universität gesetzt haben, dieselben Ergebnisse erzielen wie die privilegierten Achtklässler aus den wohlhabenden Vorstädten. »Die Lesekompetenz unserer Kinder ist guter Durchschnitt«, sagt David Levin, der KIPP 1994 mit einem Lehrerkollegen namens Michael Feinberg gründete. »Mit dem Schreiben haben sie ein wenig zu kämpfen. Aber wenn sie hier abgehen, sind sie in Mathematik Spitze.«
|222| Inzwischen gibt es landesweit mehr als 50 KIPP-Schulen, und weitere sind in Vorbereitung. Hinter dem KIPP-Programm steht eines der vielversprechendsten Bildungskonzepte der Vereinigten Staaten. Doch der Erfolg hat weniger mit dem Lehrplan, den Lehrern, der finanziellen Ausstattung oder institutionellen Reformen zu tun. Der Erfolg dieser Bildungseinrichtung rührt vielmehr daher, dass sie das kulturelle Erbe ihrer Schüler ernst nimmt.
2.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts machte sich eine Gruppe von Reformern in den Vereinigten Staaten an den Aufbau eines öffentlichen Bildungssystems. Das damalige staatliche Schulsystem war kaum mehr als ein Sammelsurium von Dorfschulen und städtischen Zwergschulen, die von der jeweiligen Gemeinde unterhalten wurden. Auf dem Land wurden Schulen im Frühjahr und Herbst geschlossen, damit die Kinder ihren Eltern bei der Aussaat und der Ernte helfen konnten. In der Stadt orientierten
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