Ueberflieger
sich viele Schulen am langen und chaotischen Arbeitstag der Eltern. Die Reformer wollten sicherstellen, dass alle Kinder zur Schule gingen und dass die staatlichen Schulen eine gute Allgemeinbildung boten, das heißt, dass alle Kinder genug Unterricht erhielten, um lesen, schreiben und rechnen zu lernen und produktive Mitglieder der Gemeinschaft zu werden.
Der Historiker Kenneth Gold weist jedoch darauf hin, dass den frühen Bildungsreformern daneben sehr daran gelegen war, den Kindern nicht
zu viel
Bildung zuzumuten. Im Jahr 1871 veröffentlichte beispielsweise das Bildungsministerium einen Bericht von Edward Jarvis über den Zusammenhang von Bildung und Wahnsinn. Nach der Untersuchung von 1 741 Geisteskranken kam Jarvis zu dem Schluss, dass für 205 dieser Fälle »Überbildung« verantwortlich gewesen sei. »Bildung legt den Grundstein für zahlreiche Ursachen des Wahnsinns«, schrieb Jarvis. Eine ähnliche Auffassung vertrat auch Horace Mann, Bildungspionier aus Massachusetts |223| , der meinte, wenn die Schule die Kinder zu sehr fordere, habe dies »schädliche Auswirkungen auf Charakter und Gewohnheiten … Nicht selten wird durch eine Überreizung des Geistes die Gesundheit zerstört.« In Fachzeitschriften brachten Erzieher immer wieder ihre Sorge zum Ausdruck, sie könnten die Kinder zu sehr fordern oder durch allzu viel Schulbildung ihre angeborenen Fähigkeiten ersticken.
Gold schreibt, die Reformer
»suchten nach Möglichkeiten, die Zeit, die Kinder mit Schule und Hausaufgaben verbrachten, möglichst zu reduzieren, mit der Begründung, lange Phasen der Erholung schützten den Geist vor Verletzung. Daher wurde im 19. Jahrhundert der Samstagsunterricht abgeschafft, und die Ferien wurden verlängert. Lehrer wurden gewarnt, »beim Lernen dürfen die Schüler nicht durch allzu langes Stillsitzen körperlich ermüdet und durch allzu langes Studieren geistig verwirrt werden«. Ruhepausen ermöglichten dem Geist zudem die Stärkung der kognitiven und analytischen Fähigkeiten. Einer der Autoren des Massachusetts Teacher schrieb: »Derart befreit von der Anspannung des Studierens, erwerben Jungen und Mädchen, genau wie Männer und Frauen, die Angewohnheit des eigenständigen Denkens und Reflektierens, unabhängig von dem, was man ihnen beigebracht hat, und unabhängig von der Autorität anderer.«
Der Gedanke, dass sich Lernen und Ruhepausen im Gleichgewicht befinden müssen, unterscheidet sich ganz erheblich von der ostasiatischen Vorstellung des Lernens. Doch die ostasiatische Weltsicht hat ihren Ursprung natürlich im Reisfeld. Im Delta des Perlflusses bringen die Reisbauer zwei bis drei Ernten pro Jahr ein. Das Land liegt nur für kurze Zeit brach. Da mit dem Wasser immer neue Nährstoffe auf die Felder gelangen, wird das Land sogar umso fruchtbarer, je öfter es bestellt wird.
In der Landwirtschaft des Westens ist das Gegenteil der Fall: Wenn ein Weizen- oder Maisfeld nicht alle zwei bis drei Jahre brachliegt, wird der Boden ausgelaugt. Im Winter werden die Felder ebenfalls nicht bestellt. Im bäuerlichen Jahreslauf folgen auf die Anstrengungen im Frühjahr und Herbst die gemächlicheren |224| Phasen im Sommer und Winter. Diese Logik übertrugen die Bildungsreformer auf die Kultivierung des menschlichen Geistes. Durch Vergleich und Übertragung gelangen wir zu neuen Vorstellungen, wir bewegen uns vom Bekannten zum Unbekannten, und was diese Reformer kannten, war der Rhythmus der Landwirtschaft. Ein Geist muss wie ein Feld bestellt werden. Aber nicht zu sehr, sonst wird er ausgelaugt. Und was war das Gegenmittel? Lange Sommerferien – dieses eigentümliche US-amerikanische Erbe, das bis heute weitreichende Auswirkungen auf das Lernverhalten der Kinder hat.
3.
Die Sommerferien spielen in den gegenwärtigen Bildungsdiskussionen kaum eine Rolle. Sie gelten wie Football und der Abschlussball als heilige und unantastbare Einrichtung im schulischen Alltag. Aber wir wollen sehen, ob die folgenden Testergebnisse aus der Grundschule unseren Glauben an den Wert der Sommerferien nicht ein wenig erschüttern können.
Die Zahlen stammen aus einer Untersuchung des Soziologen Karl Alexander von der Johns Hopkins University. Alexander verfolgte die Entwicklung von 650 Erstklässlern der staatlichen Schulen von Baltimore und analysierte deren Abschneiden im California Achievement Test, einem verbreiteten Test zur Lese- und Rechenkompetenz. Die folgende Tabelle gibt die Ergebnisse des Lesetests der ersten fünf Jahre
Weitere Kostenlose Bücher