Ueberflieger
ansteigt.
Da sitzt nun also Renee vor dem Bildschirm und soll herausfinden, welche Werte sie eingeben muss, damit der Computer eine Linie zeichnet, die mit der y-Achse zur Deckung kommt. Wer sich tatsächlich noch an seinen Mathematikunterricht erinnert, der weiß, dass das unmöglich ist. Eine senkrechte Linie hat eine unendliche Steigung: Sie beginnt auf der y-Achse bei Null und steigt immer weiter ins Unendliche. Auf der x-Achse bleibt sie dagegen bei Null. Aber eine natürliche Zahl lässt sich nicht durch Null dividieren.
Doch Renee sieht nicht, dass das, was sie vorhat, nicht funktionieren kann. Sie sitzt einem »glorreichen Irrtum« auf, wie Schoenfeld es nennt. Er führt dieses Video deshalb so gern vor, weil es demonstriert, wie sich dieser Irrtum auflöst.
Renee ist Krankenschwester und hat sich in der Vergangenheit nie sonderlich für Mathematik interessiert. Doch das Programm lässt sie nicht los.
»Also, ich würde gern mit diesem Programm eine senkrechte Linie zeichnen, die parallel zur y-Achse verläuft«, fängt sie an. Schoenfeld sitzt neben ihr. Sie sieht ihn fragend an. »Es ist fünf Jahre her, dass ich so was gemacht habe.«
Sie spielt mit dem Programm und gibt verschiedene Zahlen ein.
»Also, wenn ich die Neigung so verändere … minus 1 … also, eigentlich will ich ja, dass diese Linie senkrecht ist.«
Sie gibt neue Zahlen ein, und die Gerade verändert sich.
»Oh. Das war’s nicht.«
Sie wirkt verwirrt.
»Was haben Sie vor?«, fragt Schoenfeld.
»Ich will eine gerade Linie zeichnen, die parallel zur y-Achse |214| verläuft. Also, was muss ich machen? Ich glaube, ich muss das ein bisschen verändern.« Sie zeigt auf die y-Koordinate. »Das habe ich eben gesehen. Wenn ich von 1 auf 2 gehe, dann verändert sich viel. Aber um ganz da rauf zu kommen, muss ich immer mehr verändern.«
Genau das ist Renees glorreicher Irrtum. Sie hat erkannt, dass die Gerade umso steiler wird, je größer die y-Koordinate ist, und meint daher, sie müsse den Wert nur groß genug wählen, um eine senkrechte Linie zu erhalten.
»12 oder 13 könnte vielleicht ausreichen. Vielleicht 15.«
Sie legt die Stirn in Falten. Mit Schoenfelds Hilfe versucht sie, der Frage auf den Grund zu gehen. Sie fragt, er stößt sie sanft in die richtige Richtung. Sie unternimmt einen Anlauf nach dem anderen.
Sie gibt 20 ein. Die Gerade wird ein wenig steiler. Sie tippt 40 ein. Die Gerade wird noch steiler.
»Ich sehe den Zusammenhang. Aber warum, das verstehe ich nicht. Was ist, wenn ich 80 eingebe? Wenn ich mit 40 auf halbe Höhe komme, müsste ich doch mit 80 ganz raufkommen. Also, schauen wir mal.«
Sie gibt 80 ein. Die Gerade wird steiler, aber sie ist nicht senkrecht.
»Das geht wohl bis unendlich so weiter? Da kommen wir ja nie hin.« Renee hat eine heiße Spur. Doch dann kehrt sie zu ihrem Irrtum zurück.
»Also, was brauche ich? Jedes Mal, wenn ich die Zahl verdoppele, wird der Abstand kleiner. Aber wir kommen nie ganz hin …«
Sie gibt 100 ein.
»Das ist näher. Aber es ist immer noch nicht ganz dran.«
Sie denkt laut. Ganz offensichtlich steht sie kurz vor der Lösung. »Das hab ich mal gewusst … aber … das hab ich mal gewusst. Ich weiß nur nicht, warum …«
Sie schweigt und starrt auf den Bildschirm.
»Ich bin verwirrt. Es ist zehn zu eins. Aber ich will …«
|215| Dann sieht sie es.
»Ah, es ist irgendeine Zahl oben und Null unten. Eine beliebige Zahl dividiert durch Null!« Sie strahlt. »Eine senkrechte Linie ist eine beliebige Zahl dividiert durch Null – und das ist Unendlich! Okay. Jetzt verstehe ich. Die Steigung ist unendlich. Ahaaaa! Das bedeutet jetzt was. Das vergesse ich nicht mehr!«
6.
Im Rahmen seiner Untersuchungen hat Schoenfeld zahlreiche Aufnahmen von Studenten gemacht, während diese versuchen, Mathematikaufgaben zu lösen. Das Video von Renee gehört zu seinen Lieblingsaufnahmen, denn es demonstriert eindrucksvoll etwas, das er für das Geheimnis des Mathematiklernens hält. Zwischen dem Beginn des Bandes und Renees Aha-Erlebnis vergehen ganze 22 Minuten. Das ist eine lange Zeit. »Das ist Mathematik der achten Klasse«, erklärt Schoenfeld. »Aber wenn ich einen Achtklässler an dieselbe Aufgabe setze, dann sagt der nach ein paar Versuchen: ›Das kapier ich nicht, erklären Sie’s mir.‹« In einem anderen Experiment fragte Schoenfeld eine Gruppe von Schülern, wie lange sie an einer Hausaufgabe arbeiten würden, ehe sie zu dem Schluss kämen, sie sei zu schwer und
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