Ueberflieger
zusätzlichen Unterricht erhält. Wenn er sich zu Hause langweilt, stehen ihm jede Menge Bücher zur Verfügung, die er lesen kann, und seine Eltern sehen es als ihre Verantwortung an, ihm einen aktiven Umgang mit seiner Umwelt beizubringen. Es ist also kein Wunder, dass Alex über den Sommer seine Lese- und Mathematikkompetenz verbessert.
Anders Katie Brindle, das kleine Mädchen am anderen Ende der sozialen Leiter. Ihre Mutter hat nicht das Geld, sie ins Sommercamp zu schicken, und sie hat keine Zeit, Katie nachmittags zu außerschulischen Kursen zu begleiten. Bei Katie zu Hause liegen keine Bücher herum, die sie lesen könnte, wenn sie sich langweilt. Wahrscheinlich schaltet sie den Fernseher ein. Das heißt nicht, dass sie nicht trotzdem ihre Sommerferien genießt, andere Kinder kennenlernt, draußen spielt, ins Kino geht und die sorglosen Sommertage verlebt, von denen wir alle träumen. Doch dies trägt nicht |228| zu einer Verbesserung ihrer Lese- und Mathematikkompetenz bei, und jeder dieser sorglosen Sommertage lässt sie ein Stückchen weiter hinter Alex zurückfallen. Alex ist vermutlich kein bisschen intelligenter als Katie, doch er arbeitet mehr. Während Katie in den Sommerferien draußen spielt oder vor dem Fernseher sitzt, nutzt Alex diese Monate zum Lernen.
Alexanders Untersuchung lässt den Schluss zu, dass die Bildungsdiskussion in den Vereinigten Staaten in die falsche Richtung geht. Sie dreht sich vor allem um Klassenstärken, Lehrplanreformen, Laptops für die Schüler und eine bessere finanzielle Ausstattung der Schulen und geht grundsätzlich davon aus, dass die Schulen in entscheidenden Punkten versagen. Doch ein Blick auf die zweite Tabelle, die zeigt, was in den Sommerferien passiert, belegt, dass die Schulen sehr wohl funktionieren. Für die Kinder mit schlechteren schulischen Leistungen besteht das Problem vielmehr darin, dass es nicht genug Schule gibt.
Mit einer einfachen Berechnung zeigt Alexander, was passieren würde, wenn die Kinder aus Baltimore das ganze Jahr über zur Schule gingen: Am Ende der Grundschule würden Kinder aus armen und reichen Familien nahezu dieselben Ergebnisse in Lesen und Mathematik erzielen.
Plötzlich erscheinen die Ursachen für die Überlegenheit der ostasiatischen Kinder in Mathematik in einem völlig neuen Licht. In ostasiatischen Ländern haben die Kinder nämlich keine langen Sommerferien. Warum auch? Eine Kultur, die der Ansicht ist, der Weg zum Erfolg bestehe darin, an 360 Tagen im Jahr vor Sonnenaufgang aufzustehen, wird ihre Kinder kaum drei Monate lang in die Sommerferien schicken. In den Vereinigten Staaten hat das Schuljahr im Durchschnitt 180 Tage. In Südkorea sind es dagegen 220 und in Japan sogar 243.
In einem der letzten internationalen Mathematiktests wurden die Teilnehmer gefragt, wie viele der Aufgaben aus Algebra, Analysis und Geometrie aus Themenbereichen stammten, die sie bereits im Unterricht behandelt hatten. Japanische Zwölftklässler hatten |229| 92 Prozent der abgefragten Themen im Unterricht abgedeckt. Das ist das Ergebnis von 243 Schultagen im Jahr: Die Schüler haben mehr Zeit zum Lernen und weniger Zeit zum Verlernen. Zwölftklässler aus den Vereinigten Staaten hatten dagegen nur 54 Prozent der Themen bereits im Unterricht behandelt. Im Falle der sozial benachteiligten Kinder haben die Vereinigten Staaten kein Schulproblem, sondern ein Ferienproblem, und genau dieses Problem wollen die KIPP-Schulen lösen. Sie holen die Lektionen des Reisfeldes in die amerikanischen Innenstädte.
4.
»Der Unterricht beginnt um 7:25 Uhr«, erklärt David Levin, Leiter der KIPP-Academy in der Bronx. »Die Schüler beginnen mit einem Kurs namens Denkkompetenz, der bis fünf vor acht dauert. Danach haben die Kinder jeden Tag 90 Minuten Englisch und 90 Minuten Mathematik, und in der fünften Klasse sind es sogar zwei Stunden Mathematik. Dazu kommen eine Stunde Naturwissenschaften, eine Stunde Sozialkunde, mindestens zwei Mal pro Woche ein Stunde Musik plus eine Stunde und 15 Minuten Orchester für alle. Der Schultag beginnt um 7:25 Uhr und endet um 17 Uhr. Danach gibt es betreute Hausaufgabengruppen, Nachsitzen und Mannschaftssport. An einem durchschnittlichen Tag bekommen unsere Schüler zwischen 50 und 60 Prozent mehr reine Lernzeit als die Schüler an anderen staatlichen Schulen.«
Levin steht im Gang der Schule. Es ist Mittagspause, und die Kinder gehen in geordneten Reihen an ihm vorüber. Sie tragen Hemden der KIPP-Academy. Levin
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