Ueberflieger
Uniformen gekauft und damit ihre Ersparnisse aufgezehrt. Was sollten sie tun, wenn sie die Rechnung für das zweite Jahr meiner Mutter bekamen? Aber sie konnten doch schlecht die eine Tochter zur Schule schicken und die andere nicht. Meine Großmutter blieb standhaft. Sie schickte einfach beide Mädchen und betete. Am Ende des ersten Jahres stellte sich heraus, dass eine Klassenkameradin der beiden zwei Stipendien erhalten hatte, und das zweite Stipendium ging an meine Mutter.
Als es ans Studieren ging, erhielt meine Tante das sogenannte Jahrhundertstipendium. Diesen Namen hatte das Stipendium erhalten, weil es anlässlich des hundertsten Jahrestages der Befreiung der jamaikanischen Sklaven eingerichtet worden war. Daran, dass jährlich nur ein einziges Jahrhundertstipendium für die gesamte Insel vorgesehen war, lässt sich ungefähr ablesen, wie wichtig den britischen Kolonialherren die Erinnerung an die Abschaffung der Sklaverei auf Jamaika war. Das Stipendium war den Absolventen von öffentlichen Grundschulen vorbehalten und ging abwechselnd an einen Jungen und ein Mädchen. Das Jahr, in dem sich meine Tante bewarb, war ein »Mädchenjahr«. Sie hatte Glück, ihre Schwester nicht. Also musste meine Mutter die Kosten für die Überfahrt nach England, Miete, Lebenshaltung und die Studiengebühren der University of London selbst aufbringen. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, um welche Summe es sich handelte: Das Jahrhundertstipendium, das meine Tante bekam, betrug etwa so viel wie das Jahreseinkommen meiner beiden Großeltern zusammengenommen. Es gab damals noch keine staatlichen Ausbildungskredite |242| , und keine Privatbank hätte einem Lehrer auf dem Land ein Darlehen gegeben. Meine Mutter erinnert sich: »Wenn ich meinen Vater gefragt hätte, dann hätte der mir geantwortet, ›Wir haben kein Geld.‹«
Was also tat Daisy? Sie ging zu einem chinesischen Ladenbesitzer im Nachbardorf. Auf Jamaika leben viele Chinesen, die seit dem 19. Jahrhundert den Einzelhandel der Insel beherrschen. In Jamaika heißt ein Laden nicht einfach Laden, sondern »Chineeshop«. Daisy ging also in den Chinee-shop eines gewissen Mr. Chance und lieh sich Geld. Niemand weiß, wie viel sie sich lieh, doch es muss eine immense Summe gewesen sein. Und niemand weiß, warum Mr. Chance ihr das Geld lieh, außer natürlich, dass es sich um Daisy Nation handelte, die ihre Rechnungen immer prompt bezahlte und an der Schule von Harewood die chinesischen Kinder unterrichtete. Chinesische Kinder hatten auf jamaikanischen Schulhöfen kein leichtes Leben und wurden von ihren jamaikanischen Mitschülern gehänselt: »
Chinee nyan dog
– Chinesen essen Hunde«, hieß es. Daisy war eine freundliche und beliebte Frau, eine Oase inmitten einer feindseligen Umwelt. Vielleicht hatte Mr. Chance das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein.
»Ob sie mir erzählt hat, was sie getan hat? Ich habe sie nicht gefragt«, erzählt meine Mutter. »Es ist einfach so passiert. Ich habe mich an der Universität beworben und einen Studienplatz bekommen. Ich hatte einfach das Vertrauen, dass ich mich auf meine Mutter verlassen konnte, ohne mir bewusst zu sein, dass ich mich auf meine Mutter verlassen habe.«
Joyce Gladwell verdankt ihre Universitätsausbildung erstens William MacMillan, zweitens einer Schülerin, die ihr Stipendium an sie abtrat, drittens Mr. Chance, vor allem aber Daisy Nation.
3.
Daisy Nation stammte aus der nordwestlichsten Ecke Jamaikas. Ihr Urgroßvater war ein gewisser William Ford, der 1784 aus Irland |243| eingewandert war und auf Jamaika eine Kaffeeplantage erworben hatte. Kurz nach seiner Ankunft kaufte er eine Sklavin und machte sie zu seiner Konkubine. Er hatte sie im Hafen von Alligator Pond gesehen, einem Fischerdorf an der Südküste. Sie war eine Angehörige der Igbo, einem Volk aus Westafrika. Die beiden hatten einen gemeinsamen Sohn, den sie John tauften. John war in der Sprache der damaligen Zeit ein Mulatte, das heißt, er war »farbig«. Damit fielen fortan alle Fords in die Klasse der Farbigen auf Jamaika.
Für einen weißen Großgrundbesitzer im Süden der Vereinigten Staaten wäre es seinerzeit undenkbar gewesen, in aller Öffentlichkeit eine Beziehung zu einer Sklavin einzugehen. Sexuelle Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen galten als unmoralisch. Die Rassentrennung wurde durch Gesetze festgeschrieben, von denen das letzte erst im Jahr 1967 vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten abgeschafft wurde. Ein
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