Uebergebt sie den Flammen
n der Uferböschung endeten die tiefen Narben der Handelsstraße. Ein sorgfältig gestampfter Weg führte bis zum Fluss hinunter. Noch lag die Rheinfähre festvertäut, die breite Rampe hatte sich in den Kies gebohrt, der Rumpf schabte im flachen Wasser auf den glattgewaschenen Kieselköpfen. Das Pendel zwischen Büderich und Wesel war kein aufrechter Flusskahn, nur ein bug- und heckloses Stück Schiff, nebeneinandergefügte Einbäume, bedeckt mit Planken, die über die Stirnseite hinausragten, um das Auffahren der Kutschen und Karren zu erleichtern.
»Dass mir keiner pfeift!« Steile Falten standen zwischen den Brauen des Fährmanns, mürrisch blickte Reinhold seine Ruderknechte und die wenigen Fahrgäste an. Mehr als 30 Jahre sorgte der Alte schon für das Hol-über! Das Wetter hatte sein Gesicht zu einer Maske geknittert, die nur einen Gefühlsausdruck zuließ. Stets schien Reinhold übellaunig, als passe ihm das Volk nicht, das seine Fähre betrat, waren es der Herzog der jülich-klevischen Länder selbst, die pelzbekragten Kaufleute aus Flandern oder Münster, waren es Scherenschleifer und Bettelstudenten oder die Nachbarn und Bauern der ufernahen Städte Büderich und Wesel. Sie alle fühlten sich von Reinhold gleich behandelt, schroff und abweisend.
»Dass mir keiner pfeift!« Niemand nickte ihm zu. Die Knechte blickten noch nicht einmal auf. Jeder kannte den Befehl des Fährmanns, seine Warnung an die Fahrgäste, nicht durch leichtsinniges Pfeifen den Wind zu wecken, die Flussgeister aufzuschrecken. Auf dem Wasser galten ungeschriebene Gebote, die Befolgung war für alle selbstverständlich. Während der Überfahrt wurde nicht geflucht, nicht gestritten, ein Missetäter durfte auf der Fähre nicht verhaftet werden, und nach dem Anlegen erhielt er einen Vorsprung vor seinen Verfolgern. Eine eigene Ordnung herrschte auf diesem Stück der großen Handelsstraße, über das kein noch so Kühner, kein noch so Mächtiger gehen oder reiten konnte. Allein der Fährmann brachte sie sicher über das Unheil, das auch im ruhig fließenden Strom lauerte. »Dass mir keiner pfeift!« Auch heute, an diesem milchlauen Septembermorgen, war dieser Satz nur das Signal zur Abfahrt.
Die Gespräche verstummten. Eng rückten die Marktfrauen ihre Körbe, der Kräutermann die Kiepe und der Handwerksbursche seinen Reisesack an sich heran. Mit raschem Blick überprüfte Wendel die Holzkeile an den Rädern des Karrens und fasste den Maulriemen der Stute. Die junge Frau hob ihren Mund zum Ohr des Tieres. »Ruhig, Aga, ganz ruhig.« Leise schnaubte das schwergebaute Pferd, an seinem ausladenden Leib lief das Zucken bis in die Muskeln der Hinterhand. »Alles ist gut, Aga. Ich bin da.« Mit dem Klang ihrer Stimme sprach Wendel gegen die Unruhe an.
Drei und drei standen die Ruderer an den Riemen. Alle waren bereit. Ohne Hast löste der Fährmann das Halteseil, stieß die Stange in den Schlick zwischen den Kieselköpfen und stemmte die Fähre vom Ufer ab. Die Planken ächzten. Erst unmerklich, dann rasch und gierig nahm der Rhein die klobige Ponte mit in die Strömung.
Wendel hielt den Atem an, schloss die Lider, nichts durfte den Augenblick stören. Ein langer Sog, der fortzieht, so unausweichlich. Tief im Innern fühlte sie diese Gegenwelle aufsteigen, die ohne Gewalt hinaufrollte und in der Brust sich brach, wieder aufstieg. Als Kind war sie oft zur Scheunenluke hochgeklettert, hatte sich umgedreht und einen großen Schritt zurück ins Leere getan, um während des Sturzes die Lust auszukosten, die den Magen drängte, um dann rücklings ins Heu zu fallen, in diese weiche, sichere Hand.
»Schlagt ein!« Hart schnitt der Befehl des Fährmanns. Wendel öffnete die Augen. Die sechs Ruderblätter klatschten in die Wellen, tauchten auf, schlugen ein und stemmten die Fähre schräg gegen die Strömung. Der Pendelschlag begann. Schäumend furchte das Stück Schiff den Bogen durch das Wasser.
»Wär ich doch ein Mann«, entfuhr es Wendel, schnell presste sie die Hand vor den Mund. Nein, niemand wandte sich um. Laute Gedanken klingen verrückt.
Wendel richtete sich auf und reckte das Gesicht gegen den Fahrtwind. Wenn ich ein Mann wäre, dann möchte ich Fährmann sein. Sie kommen, vertrauen sich mir an, und ich bringe sie sicher zum anderen Ufer. Ich stehe auf den Planken und lenke den großen Bogenschlag. Meine Fähre ist das Pendel einer großen Uhr, die keine Stunde zeigt und doch die Zeit bestimmt. Ich helfe mit, dass sie nicht
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