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Uebergebt sie den Flammen

Uebergebt sie den Flammen

Titel: Uebergebt sie den Flammen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Röhrig
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Ordnung! Das schwöre ich bei Gott und den Heiligen.«
    *

D as Feldtor öffnete Büderich zum Süden und Westen hin, der Weg führte durch üppige Gärten, Erbsenranken, Kürbisbeete, Salate, zu viel für den täglichen Gebrauch, genug, um den Überfluss auf dem Weseler Markt zu verkaufen. Erst nach den Apfelbäumen war der Blick frei, ein Ausatmen über sattes Juniland bis zum Horizont.
    Wendel beeilte sich nicht. Weit vor ihr, zwischen den Wiesen und Kornfeldern, ging Johann, den Kopf gesenkt. Er will den Tag nicht sehen, dachte Wendel bekümmert. Gemeinsam hatten sie die Stadt verlassen, doch dann war sie ihm zu langsam gewesen. »Deine Tochter hat mich zu sehr angestrengt.« Sie hatte gescherzt und gehofft, ihn damit halten zu können, vergeblich, er wollte weite Schritte machen, auf dem Rückweg würde er Wendel hinter den Feldern, an ihrem heimlichen Platz bei der Weghecke, treffen.
    Johann war zerstört aus Köln zurückgekehrt. Seitdem sprach er nicht viel, grübelte über dem Evangelium oder las in dem neuen Buch, das er mitgebracht hatte, und antwortete einsilbig auf Wendels Fragen. Von Köln, von dem Verhör wusste sie nur »Ich habe alles verraten.« Damals hatte sie ihn fest umarmen wollen, so groß war ihre Erleichterung gewesen, doch er hatte sich verzweifelt abgewandt.
    Die Tage der Geburt waren gefräßig, hatten in Wendel alle Gedanken an seinen Kummer verschlungen, ihre Kraft gehörte dem Kind. Als die ersten Wehen einsetzten, die eigene Mutter sich zu schwach fühlte, um zu helfen, bat sie Johann um Hilfe. Wendels Schmerzen rissen ihn aus seinem Kummer, und er ging auf die Suche. Keine Frau in Büderich war bereit, zu groß war die Angst. Seit Wochen schon hatte der Mönch aus Dorsten die Bürgerinnen vor dem Monstrum gewarnt. »Zweiköpfig, gar ohne Kopf, ein Doppelmensch, ein Kopf mit zwei Körpern! Oder gar ein Neuntöter, hat gleich eine Doppelreihe von Nadelzähnen! Wer dieses Monstrum holt, ist selbst vom Satan besessen.«
    Johann hatte Aga aus dem Stall geführt, war losgeritten und noch rechtzeitig mit einer Frau zurückgekehrt. Trotz Wehen, trotz der hohen Zeit hatte Wendel gelächelt, als sie die große Bäuerin erkannte, dieses offene Lächeln mit den schwärzlichen Zahnstummeln. »Ich bin die Greet«, noch herzlicher, »Kindchen, heute nehmen wir keine Kohlblätter.« Sie herrschte Wendels Mutter an: »Leg die Tücher her und bring heißes Wasser!«
    Greet hatte Hände, so fest und zart. So leicht war die Geburt.
    Ich bin eine Welt geworden. Dieses Geheimnis kann niemand durch Worte verraten. Wendel blieb auf dem Weg stehen, nur wer es erlebt, weiß es. Die Erinnerung dehnte ihr Herz, sie hörte den ersten Schrei, fühlte den ungeduldigen Mund. Ich kann es kaum fassen, gerade war ich noch allein, nur die Wendel, jetzt bin ich so viel mehr. Beschwingt ging sie weiter, wollte Johann erwarten, wünschte, dass er den Tag so spürte wie sie. »Ich habe Kraft für uns, für die kleine Lisel, für dich, und es bleibt genug für mich.«
    Wendel musste nicht suchen, der dornige Knick links des Weges war an einer Stelle von Haselsträuchern unterbrochen, hier war der einzige Durchschlupf, um ohne Risse auf die Wiese zu gelangen. Ein heimlicher Platz, im Rücken der Dornenschutz, um sie herum unberührtes Gras, wilde Blumen und für die Gedanken der Himmel mit Wölkengebilden auf der Reise. Als Kind hatte sich Wendel hier verborgen, mit Johann war aus dem Versteck ein Ort des Glücks und Ausruhens geworden, ihre gemeinsame Zuflucht.
    Ohne Ungeduld wartete Wendel auf seine Rückkehr und atmete aus. Nur die Lerchen über ihr hatten sich nicht beunruhigen lassen, der Knick schwieg noch. Allmählich setzte das heimliche Zirpen, Geschwätz und Summen wieder ein. Jetzt störe ich nicht mehr, dachte sie.
    Hässliches Schnalzen! Wendel setzte sich auf. Der Neuntöter ruft! Angestrengt suchte sie die höchsten Zweige der Hecke ab und entdeckte den Würger. Meine Tochter ist gesund, kein Monstrum. »Du machst mir keine Angst mehr!«, rief sie dem Vögel zu. Sie erhob sich und ging an der Hecke entlang, bog die dornigen Ranken auseinander, drang mit den Augen in das Gewirr. Wer den Ruf hört, soll die Opfer finden, und das Unheil ist gebannt. Daran glaube ich längst nicht mehr, suche sie nur meiner Lisel zuliebe.
    Der plötzliche Anblick entsetzte sie, mit beiden Händen öffnete Wendel den Schlehbusch, verhakte die Äste. Auf den Dornen eines toten Zweigs hatte der Würger seine Opfer aufgespießt,

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