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Uebergebt sie den Flammen

Uebergebt sie den Flammen

Titel: Uebergebt sie den Flammen
Autoren: Tilman Röhrig
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respektvoll war ihnen eine Gasse geöffnet worden. Ihr gemeinsamer Platz war bei den Prädikanten in vorderster Reihe, neben den samt- und atlasgekleideten Herren und ihren Damen in Gewändern von glitzernden Fäden durchwirkt. Für einen kurzen Moment galten Wendel die neugierigen Blicke, doch schon war sie eingereiht, und jedes Augenpaar lebte mit dem zuckenden Leib des Propheten.
    Stille, nur das unentwegte Nichtstillstehen. Im Halbbogen hinter ihm blitzten geschärfte Hellebarden, selbst seine Wächter schwankten, wenn die Verzückung ihn schüttelte. Augen, die hängenden Bartsträhnen, ein scharfes Gesicht, der Prophet sprang auf, lang, wie ausgemergelt seine Gestalt. In Wendels Rücken taumelten die Leute. Die gespreizten Finger des Propheten berührten den Himmel. »Das Korn ist gemahlen, Brüder und Schwestern. Nur noch wenige Tage, dann wird ein unübersehbares Heer der Auserwählten im Neuen Jerusalem eintreffen. Hosianna!«
    Aus mehr als tausend Kehlen brach der Jubelruf. »Hosianna!«
    »Zuerst aber werden die heißersehnten Brüder allen Heiden vor unseren Toren die Schwerter in den Rücken bohren und sie in den Boden stampfen.« Mit abgehackten Schritten stakte Jan Matthys vor den Hellebarden hin und her. »Sie werden dem grindbefallenen Bischof den eiternden Kopf zerquetschen und uns von den Belagerern befreien.« Er grub nach Speichel und spie ihn aus, lachte den Himmel an. »Im strahlenden Licht werden wir den Siegreichen die Tore öffnen!«
    Wie der Prophet, so öffnete das Volk die Arme. »Hosianna!«
    Ekel erstarrte Wendel, hastig trat Johann hinter sie, »Gehorche!», zischte er und riss ihre Arme wie einer Puppe auseinander.
    Den Finger bohrte der Prophet den Gläubigen in die Gesichter. »Wehe uns. Wir sind nicht bereit. Noch ist das Mehl unrein! Gott straft uns. Buße! Buße!«
    In der Menge rissen Frauen und Männer ihre Hemden auf und schlugen sich an die Brust. »O Vater im Himmel, verschone deine Kinder!« Zittern erbebte den Propheten, seine Zähne schlugen.
    Es ist nicht wirklich, haltlos keuchte Wendel, hob die Fäuste, nicht mehr, nicht. Sie stieß einen gellenden Schrei aus. Sofort schrie das Echo aus den Kehlen. »Buße! Buße!«
    Weil ich schreie? Entsetzt schwieg Wendel, würgte die Verzweiflung, ich darf mich nicht verlieren.
    »Buße! Verschon uns, Vater!«
    Der Prophet schnitt die Klagen ab. »Heute Morgen hat mir der Heilige Geist befohlen, jedes sündige Denken auszulöschen. Eure Augen sollen nicht länger beschmutzt werden. Nur die Bibel darf unser Buch sein! Bringt alle Schriften her. Bringt die Bücher der Gottlosen! Reißt sie aus den Klöstern, den Bibliotheken. Schnell! In die Flammen mit all ihren verruchten Gedanken! So hat es mir der große Gott befohlen. Lauft! Bringt! Zündet an! Verbrennt sie!«
    Wie ein Stern platzte die Menge auseinander.
    Der Prophet fiel auf die Knie, schloss die Augen, sank vornüber, dann schaukelte er den Körper auf der Erde.
    Allein die Prädikanten und wenige Vornehme waren zurückgeblieben, gingen umeinander, begegneten sich mit heißen Gesichtern, stießen nicht aneinander, gingen und blieben doch, Wendel wurde geschoben, musste gehen, wurde gedreht.
    »Siehst du, Wendel?«
    Johann, ich höre dich, kann dich kaum erkennen.
    »Das ist der Bürgermeister Knipperdolling.« Ein riesiger Mann, Gelächter polterte ihm aus dem bärtigen Mund. Wendel wurde gedreht. »Das ist der zweite Prophet Jan Bockelson aus Leiden.«
    Seine Augen sind hell, so hart. Wendel drehte sich, stand vor einer Frau, die Hände griffen nach ihren Schultern, liebevoll zogen sie Wendel in die Umarmung. »Ich bin Divara, die Gemahlin des Propheten.«
    Ihr Busen ist prall wie der Bauch, dachte Wendel.
    Die vollen Lippen öffneten sich. »Wir leben unter einem Dach. Du hast drei Töchter. Bald werde ich dem Propheten einen Sohn gebären.«
    Ich wollte meinem Johann Söhne schenken. Wie ein Stich wachte der Gedanke auf: Als er noch mir gehörte.
    »Trotz deiner Kinder bist du schön geblieben. Bald werde ich dich meinem Matthys vorführen.«
    Wendel krallte die Hände ineinander, stach die Nägel in die Haut, so gut fühlte sich der Schmerz an. »Mein Kopf«, antwortete sie der Frau des Propheten.
    »Und klug bist du«, antwortete Divara.
    Der Stern floss kreischend wieder auf den Domplatz zurück, schon brannte das Feuer, hochbepackte Menschen schoben sich bis zu den Flammen, Bücher, alte Schriften loderten auf, und heller als der Tag leuchtete der Schein.
    »Was
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