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Uebergebt sie den Flammen

Uebergebt sie den Flammen

Titel: Uebergebt sie den Flammen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Röhrig
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als ließen Millionen Hufe die Erde erzittern.
    In dreifacher, lang gezogener Reihe stürmten die Söldner ihm entgegen.
    »Hosianna!« Eine Kehle, ein Jubelschrei.
    Die Enden der Kette umzingelten den Propheten, schlossen den Kreis. Schwerter und Spieße färbten sich rot, die zwanzig Flammen erloschen am Boden. Nur er stand hoch aufgerichtet. Die Hellebarde brach ihm aus den Händen, der Harnisch zersprang. Die Landsknechte spießten ihn wie ein Schwein, zwei trugen die Speerenden auf den Schultern, und zwischen ihnen schnitten die Kumpane Stücke von dem Leichnam, unter Gebrüll bewarfen sie sich mit den blutigen Fetzen. Der bärtige Kopf, gepflanzt auf einen Stecken, stieg wie eine zweite Sonne aus dem Gemetzel. Näher an der Stadt brüllten sie: »Holt ihn euch!«, und kehrten jubelnd zu den bunten Zelten zurück.
    »Hosianna«, murmelte Wendel. Der Klageschrei Divaras übertönte sie, dann schwieg die Witwe des Propheten. Stille fiel über die Stadt Zion. Vorn bei den Kanonen schlugen die Heiligen ihre Faustknöchel gegeneinander, auf den Wehrgängen zuckten die Finger des auserwählten Volkes immer wieder zum Himmel.
    »Kommt. Wir müssen den Allmächtigen um Rat bitten.« Jan Bockelson winkte kurz Rothmann, den Prädikanten und Knipperdolling zu, befahl den Frauen: »Ihr bleibt im Bogenhaus, bis wir euch rufen«, und verließ eilig mit den Würdigsten die Wallschanze.
    Bis in den Nachmittag torkelten die Kinder des Neuen Jerusalem wie blind durch die Straßen, sie krächzten, niemand wusste Worte, rannten aneinander vorbei, flüchteten und wussten nicht, wo sie sich verbergen konnten.
    Wendel zog ihre Töchter vom Fenster weg, hockte sich mit den dreien auf das breite Lager. Vergnügt patschte Irmel ihre Hand über die der Mutter, Lenel, Lisel, die zweite Hand der Mutter, sie bauten weiter und errichteten einen Turm.
    Gleich nach dem Kanonenschuss stürmte Johann in den Raum. »Kommt! Er will zu uns sprechen.«
    »Wer?« Fassungslos starrte Wendel ihn an.
    Neue Begeisterung lebte in Johanns Augen. »Der wahre Prophet Jan Bockelson van Leiden. Jetzt endlich errichten wir das wahre Reich!« Eilig trieb er seine Familie den Markt entlang und durch die zuckende Menge bis zum Trümmerberg vor dem Dom. Ihr Platz war bei den Prädikanten, den Würdigsten und ihren Frauen.
    »Liebe Brüder, ihr Schwestern! Seid nicht betrübt. Matthys ist tot. Es war der Wille Gottes!« Kraftvoll ließ Jan van Leiden die Knie federn, seine volle Stimme tönte in die verschreckten Herzen. »Es ist wahr, dass der Geist ihm befohlen hat, den Feind zu vernichten. Es wäre gelungen, wenn Matthys nicht von selbstsüchtigem Hochmut getrieben seiner eigenen Kraft mehr vertraut hätte denn der Macht des Mächtigsten der Mächtigen. Deshalb musste Gott ihn strafen!«
    »Hosianna!«, riefen Rothmann, die Prädikanten und Knipperdolling.
    Nur wenige antworteten aus dem Volk.
    »Hosianna!«, forderten die Heiligen streng.
    Lauter kam das Echo zurück.
    »Gott hat uns einen neuen, größeren Propheten gegeben!« Bernhard Rothmann malte mit der Hand den stattlichen Bockelson.
    Bescheiden, wie verwirrt vor Demut, strich er seinen Bart.
    »Hört mich an, Brüder und Schwestern. Es ist wahr. Vor einer Woche schon hat sich mir der Heilige Geist geoffenbart!« Er beschwor die Erscheinung. Des Nachts hatte Gott ihm einen bewaffneten Mann gezeigt, vom Speer durchbohrt, seine Eingeweide quollen heraus. Und die Stimme hatte ihn beruhigt. Nicht er, sondern Matthys würde so sterben. »Du, Jan van Leiden, sollst seine Stelle einnehmen und die Witwe zu deiner Frau machen! – Tief erschrocken habe er sofort dem Bürgermeister von dieser Erleuchtung berichtet, er solle Zeuge sein, wenn die Stunde kommt.
    Breit baute sich Knipperdolling vor der Menge auf. »Alles ist wahr! Seit einer Woche trage ich das Geheimnis in mir. Endlich darf ich es euch allen mitteilen!«, kurz stockte er, wusste weiter: »Er hat Matthys tot gesehen. Er muss Divara zum Weib nehmen. Dem Befehl des Heiligen Geistes darf er sich nicht verweigern!«
    Sie durften wieder glauben. »Hosianna!«, schrie die Begeisterung, das Volk war nicht mehr allein.
    Wendel beobachtete, wie Divara sich dem neuen Propheten zuwandte, niederkniete, »Hosianna, mein Gebieter« und ihn mit den Augen über ihren Leib zog.
    Bockelson packte nach der Macht. »Die Ungerechtigkeit, alles, was noch mit Sünde in unserer Stadt besudelt ist, wird endgültig ausgerottet. Führt die Zweifler zu mir, und ich werde sie

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