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Uebergebt sie den Flammen

Uebergebt sie den Flammen

Titel: Uebergebt sie den Flammen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Röhrig
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richten.« Damit zückte er das lange Schwert und ließ es über seinem Kopf kreisen. »Ihr seid heilig! Ihr seid das heilige Vorbild! Die Welt soll werden wie ihr!«
    Johann schnappte nach Wendels Hand, verlangte, dass sich die Kinder anfassten, tanzte mit der Familie im Kreis. Seine mächtige Stimme sang vor: »O Vater, o Vater, gib die Liebe, gib die Liebe!«
    Es ist geplant, genau geplant, fuhr es Wendel durch den Kopf. Sie musste tanzen, konnte sich nicht sträuben, sang dem Vorsänger nach.
    Divara flehte auf Knien. »Gib die Liebe, gib die Liebe!« Huldvoll hob Jan Bockelson sie an seine Brust, drehte sie langsam im Kreis. Das Lied sprang in die Auserwählten.
    »O Vater, gib die Liebe.«
    Der Tanz! Das Volk hüpfte, taumelte vor dem neuen Propheten und seiner Gemahlin.
    Spät in der Nacht fragte Wendel: »Welchen Beruf hatte der erste Prophet?«
    »Er war Bäcker.«
    »Und Jan Bockelson?«
    »Bevor ihn Gott erleuchtete, war er Schneider.«
    »Wie dein Vater?«
    Grob packte Johann das Haar. »Schweig. Sag es nie mehr!« Er lockerte den Griff, strich mit den Händen ihre Wangen. »Verzeih«, und beschwor sie: »Du musst glauben, mehr verlange ich nicht. Versteh doch, wir errichten das Reich der Tausend Jahre. Du hast teil an diesem Wunder. Wir schaffen die göttliche Ordnung, sie wird das tägliche Leben regeln. Vollkommenheit, Wendel! Zur Ehre des allmächtigen Königs der Könige, dem Herrscher der Herrschers-
    Wendel zog die schlafende Irmel dicht an ihre Brust, um nicht zu frieren.
    »Der Allmächtige hat mir geweissagt!« Der Ruf rannte vor dem Mund des Bürgermeisters durch die Straßen, bis das Volk sich um ihn drängte. »Das Hohe soll erniedrigt werden!«, damit zeigte Knipperdolling zu den Turmspitzen. Drei geschickte Zimmerleute kletterten auf die Kirchensockel, sägten die mächtigen Balken der Turmhauben an, kippten sie mit starken Winden, im Sturz zertrümmerten sie die Dächer der verruchten Götzenhäuser. Kaum waren die Staubwolken über die Stadtmauer gezogen, als Doppelte Feldschlangen, Sakkerfalken und andere Kanonen auf die Turmstümpfe gehievt wurden.
    Alles ist geplant.
    »Das Hohe soll erniedrigt werden!«, rief der Prophet vor dem Rathaus seinem Volk zu, ließ Knipperdolling niederknien. »Du warst Bürgermeister, jetzt sollst du mein Scharfrichter sein« und überreichte ihm das Henkerschwert.
    »Hosianna!«, jubelten die Bürger der Stadt Zion.
    Unglauben, Enttäuschung öffneten das Gesicht des stolzen Heiligen.
    »Nimm das Amt«, zischte Bockelson, »durch die neuen Gesetze wirst du Herr über Leben und Tod, das verspreche ich.«
    Gehorsam griff er mit beiden Händen zu. Die Sicherheit der vollkommenen Ordnung war eingesetzt.
    Ihr benutzt den Glauben der Menschen, Wendel presste die Hand auf die Lippen.
    Beseelt von neuer Begeisterung arbeiteten die Auserwählten an den Schanzen. Sie hoben die Jauchegruben der Keller aus, wuschen und kochten die durch Kot und Urin gegorene Erde, gewannen Salpeter für das Pulver der Kanonen. Durch Mauer und Wall trieben sie kaum mannshohe Gänge, Fußstege führten in Wasserhöhe zu den Stollen im zweiten Wall, die hölzernen Überwege endeten gut getarnt in der Böschung des äußeren Grabens. So tauchten die Kinder Zions unverhofft zwischen den Feinden auf, töteten und verschwanden wieder.
    Oft spazierte Wendel an den Eingängen der Geheimstollen vorbei, Tag und Nacht wurden sie bewacht. Von den Schanzen aus starrte sie zur Böschung des zweiten Grabens, ihr Blick glitt über den gerodeten Streifen, erst nach gut fünfzig Metern auf der flachen Hand des Todes begann das Niederholz. Dieses Blattgrün wurde zum Gaukelspiel ihrer Hoffnung und Verzweiflung. »Wenn es den Kindern nicht gelingt?«
    Nackt stürzte der Prophet auf den Markt hinaus, zeigte den Himmel. »Der herrliche König steht mit vieltausend Engeln bereit. Unter dem furchtbaren Schall der Posaune will er zu uns herabsteigen. Bekehrt euch! Bekehrt euch!«
    Drei Tage schwieg er. Endlich befahl Kanonendonner das Volk wieder zusammen. »Gott hat mir offenbart, dass vor seiner Ankunft den auserwählten Kindern eine göttliche Ordnung geschenkt werden soll«, und ernannte zwölf von ihm selbst ausgesuchte Älteste. Sie gaben dem Volk die Gebotstafeln: Mit dem Tod wird bestraft, wer Gott lästert, wer an der Obrigkeit zweifelt, wenn die Frau dem Manne nicht gehorsam ist, wer hurt und Unzucht betreibt. Tod. Tod. Getötet wird jeder, der murrt oder gar Aufruhr anstiftet.
    »Hosianna!«
    In den

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