Überlebensübungen - Erzählung
hatte mir gesagt, in welchem Stockwerk ich, zehn Minuten nachdem er selbst eingetreten sei, klingeln sollte, welchen Namen eines Mieters ich der Concierge nennen und, gegebenenfalls, welche Losung ich der jungen Frau sagen sollte, die mir die Wohnungstür öffnen werde.
Ich war durch dieses schöne Viertel flaniert. Ohne Buchhandlungen zogen sich die Minuten leider in die Länge. Ich hatte keinen Namen zu nennen brauchen, da keine Concierge von meiner Anwesenheit beunruhigt war. Dagegen hatte ich einer blonden jungen Frau deutlich die Losung gesagt. Sie hatte mich in ein leeres Zimmer gebeten. Es war leicht zu erraten, dass es der Warteraum eines Arztes auf dem Höhepunkt seiner Karriere war: die Zahl und Anordnung der bequemen Sitze; die Zeitschriften auf einem Tisch, die bronzenen Tierfiguren auf Konsolen; einige aus meiner Sicht uninteressante, aber sicher teure, vielleicht sogar wertvolle Gemälde an den Wänden, Perserteppiche, und so weiter.
Aber Henri Frager ist hereingekommen und hat die junge Frau gebeten, bei uns zu bleiben. Dann ist noch ein Typ aufgetaucht und hat sich wortlos hingesetzt.
Ihn kannte ich vom Sehen. Ich hatte ihn mehrmals im Umkreis von Frager in der Avenue Niel bemerkt. Vermutlich ein Mitglied des Netzes, das für den persönlichen Schutz unseres Chefs sorgte. Ein junger Mann, sehr blond, sehr schön: blendende Erscheinung. Seine Tweedjacken, obwohl abgewetzt, stammten sichtlich von den besten Schneidern. Manchmal hatte ich mich gefragt, welche Waffe er wohl trug, wo er sie verbarg.
Ein paar Monate später, während einer Fahrt zwischen Montbard und Auxerre, hatten wir nach einem Fallschirmabwurf einige Stunden zusammen verbracht, ein paar Vertraulichkeiten ausgetauscht. Im Winter trug er eine Sten-Maschinenpistole ohne ihren abnehmbaren Kolben unter seinem Trenchcoat; im Sommer eine Faustwaffe unter der Achsel, eine Neun-Millimeter-Automatik.
Damals hat er gelächelt, verschwörerisch und überlegen zugleich, und mir kurz zu verstehen gegeben, dass er mehr über mich wisse als ich über ihn.
Was nicht schwer war, denn ich wusste wirklich nichts über ihn.
»Eine sehr schöne Astra-Pistole«, sagte er, »die aus Spanien kommt, genau wie Sie!«
Ich nickte.
»Der tatsächlich aus Eibar kommt«, antwortete ich, »im Baskenland. Die erste Stadt, in der nach den Kommunalwahlen im April 1931, die sich zur Volksabstimmung gegen die Monarchie verwandelt haben, die Republik ausgerufen worden ist!«
Er hat das Gesicht verzogen und mich von Kopf bis Fuß gemustert.
»Die Republik ist nicht gerade meine Lieblingsspeise!«, verkündete er.
Ich antwortete, das überrasche mich nicht.
Er wunderte sich über meine Bemerkung. Und warum? Aus welchem Grund? Es sei schwierig, es rational zu erklären, sagte ich, eine Art Intuition.
»Sie sehen eher aus wie ein Leser von Joseph de Maistre
oder Maurras … Bestenfalls von Bernanos! In der Poesie eines Verehrers von Patrice de La Tour du Pin!«
Es war ziemlich bösartig, ihm mit diesem Dichter zu kommen. Für mich verkörperte er einen ebenso schicken wie altmodischen Manierismus. Aber er war in Lachen ausgebrochen, ein wirklich hemmungsloses, befreites, irres Gelächter. Das jäh abbrach. Dann gestattete er sich eine freundschaftliche Geste und legte mir seine rechte Hand auf die Schulter. Und er rezitierte, übrigens nicht schlecht, ohne Emphase:
Cette odeur sur les pieds de narcisse et de menthe, / Parce qu'ils ont foulé dans leur course légere / Fraîches écloses, les fleurs des nuits printeanières / Remplira tout mon cœur de ses vagues dormantes …
Er unterbrach sich, sah mich an, mich zweifellos herausfordernd.
»Laurence endormie« , sagte ich.
Ich hatte den Eindruck, dass er überrascht war, vielleicht sogar genervt.
Es war mir egal, meinerseits setzte ich den Vortrag fort:
Et peut-être très loin sur ses jambes polies, / Tremblant de la caresse encore de l'herbe haute, / Ce parfum végétal qui monte, lorsque j'ôte / Tes bas éclaboussés de rosée et de pluie …
Er lachte, noch immer überrascht, aber jetzt sichtbar glücklich.
»Meine Verlobte heißt Laurence«, sagte er.
Auch das junge Mädchen in der Comédie-Française hieß Laurence.
Dort wurde an jenem Abend im Frühjahr 1943 Bérénice gespielt, einige Zeit vor der erwähnten Fahrt zwischen Auxerre und Montbard. Sie saß im Parkett, zwei Reihen vor mir, ein wenig nach links versetzt. Sie hatte mir ihr Gesicht zugewandt, als die Schauspielerin, die die
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