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Überlebensübungen - Erzählung

Überlebensübungen - Erzählung

Titel: Überlebensübungen - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Bérénice gab – und die weit über das Alter der Rolle hinaus war, aber wunderbar die Alexandriner sprach –, gerade einige der schönsten Liebesverse der französischen Sprache rezitierte.
    In diesem Augenblick hatte Laurence, da es eine Laurence geben sollte, den unschuldigsten und verheißungsvollsten Blick, der sich vorstellen lässt: ein Wunder an Unschuld und verwirrter Weiblichkeit.
    Ich meine, verwirrender.
    Und im Laufe der herzzerreißendsten Strophen von Bérénice , in ihrem Licht, hatten wir bis zum Ende der Vorstellung Blicke ausgetauscht, so wie man Wein, Bücher und Rosen austauscht oder, ganz im Gegenteil, die Einsamkeit, einen Tod, die Verzweiflung.
    Ich hatte am Ausgang auf sie gewartet, und sie war darüber nicht verwundert gewesen. Kurz, sie hatte nichts dagegen, dass ich sie nach Hause begleitete.
    Aber damals, im Sommer 43, zwischen Auxerre und Montbard, hatte ich »Trancrède« – großer Gott, was für ein verräterisches Pseudonym! – die Fortsetzung dieser Geschichte nicht erzählt, und ich werde sie auch jetzt nicht gleich erzählen.
    Jedenfalls war das Thema, über das wir, er und ich, sprechen mussten, viel wichtiger, zumindest in der Abfolge der laufenden Geschichte, als der Hinweis auf Laurence:
im Übrigen unsere beiden Laurence, seine Verlobte und meine hübsche Gefährtin für kurze Zeit. Wichtiger, dringender als die Erinnerung an jenen Abend nach der Comédie-Française, an dem meine Laurence und ich beschlossen hatten, die höfische Liebe neu zu erfinden.
    Auf meine Kosten, kurz gesagt.
    Mein Streit mit »Tancrède« betraf nämlich den Fallschirmabwurf von Waffen. Oder besser das spätere Schicksal der von den Briten für Jean-Marie Action mit dem Fallschirm abgeworfenen Waffen. Einige von uns meinten, dass die Behälter, die wir, den Weisungen aus London folgend, den Anführern der Geheimarmee lieferten und die von diesen gelagert wurden, allzu oft in die Hände der Gestapo oder der Feldgendarmerie fielen, noch bevor sie für irgendetwas Nützliches eingesetzt werden konnten.
    Einige von uns schlugen vor, man solle wenigstens einen Teil der Waffen und des Sprengstoffs an die Gruppen der FTP aushändigen, die sie bestimmt nicht in geheimen Depots verrosten ließen. Wie man sich denken kann, warf das politische Probleme auf.
     
    Jahre, vielmehr Jahrzehnte später, in Autheuil-sur-Eure, während eines Wochenendes, das wir bei Montand und Signoret verbrachten, verkündete uns Simone, dass die Dewavrins am nächsten Sonntag zum Essen kämen. Mit einem Lächeln in der Stimme bat sie die Jüngsten der Hausgemeinschaft, nicht allzu verdreckt zu erscheinen und sich bei Tisch anständig zu benehmen.
    Dewavrin war natürlich »Passy«, Oberst Passy, der ehemalige Chef des BCRA des Freien Frankreichs.
    »Ah« hatte ich ausgerufen. »Da kann ich ihn fragen, warum die 1943 in den Départements Yonne und Côte-d'Or mit dem Fallschirm abgeworfenen Waffen nicht an die Gruppen verteilt wurden, die wirklich kämpften, warum sie in den Depots der AS verrosteten, die die Gestapo eines nach dem andern entdeckte!«
    Denn im September 1943, als ich verhaftet wurde, besaßen die Deutschen sämtliche aus unseren Depots geklauten Sten-Maschinenpistolen, die sich viel besser handhaben ließen als die schweren Dinger ihrer eigenen Armee.
    Es kam zu einer Diskussion. Die Jungen, die mit uns bei diesem Essen in Autheuil-sur-Eure am Tisch saßen – Catherine Allégret, Jean-Claude Dauphin, Dominique Martinet, Claude Landmann, Jean-Pierre Castaldi, Alain Dhénaut, Jean-Louis Livi, wie ich mich zu erinnern glaube –, haben Fragen gestellt, um Erklärungen gebeten. Der restliche Abend verging damit, ihnen die Zeit der Résistance in Erinnerung zu rufen.
    Am nächsten Tag also waren die Dewavrins da und teilten das Familienmahl: Simone hatte Marcelle gebeten, die kleinen Teller auf die großen zu stellen. Als die allgemeine Unterhaltung einen fröhlichen Kreuzfahrt-Rhythmus erreicht hatte, erklärte Simone plötzlich, mit dem gierigen Blick, der häufig ihre mörderischsten Fragen begleitete:
    »Sagen Sie, Oberst, mein Freund Semprun möchte gern wissen, warum 43 die Waffen, die Sie mit dem Fallschirm abgeworfen haben, nie an die kommunistischen FTP verteilt wurden?«
    »Passy« verlor nicht die Fassung, überhaupt nicht. Mit vollendeter Höflichkeit fragte er mich zuerst, mit wem ich in der Résistance gearbeitet hätte. Über diesen Punkt unterrichtet und zum Teil beruhigt – nur zum Teil, denn

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