Überlebensübungen - Erzählung
Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, jedoch noch zögerte, an den unglaublichen Verdacht ganz zu glauben. Und dann hat
ten sich, in den letzten Wochen vor meiner Verhaftung, die Beweise plötzlich gehäuft. Wir hatten nämlich die letzten britischen Fallschirmabwürfe auf fünf Depots der Geheimarmee verteilt. Zwei von ihnen waren sofort von der Gestapo entdeckt worden: diejenigen, um die sich ganz allein Alain gekümmert hatte. Die drei anderen, um die sich Michel H. mit meiner Hilfe gekümmert hatte, blieben unangetastet. Gewiss, es konnte ein Zufall sein: die Chancen standen eins zu tausend, vielleicht, wenn überhaupt!
»Ich habe ihn selbst erschossen«, murmelte Frager.
Und er fügte nickend hinzu:
»Ich frage mich, ob nicht er es war, der das Haus von Irène Chiot in Joigny angezeigt hat, in dem Sie verhaftet wurden …«
Auch ich hatte mir die Frage schon gestellt.
»Pech, Gérard«, hatte mir Irène mit sanfter und ruhiger Stimme gesagt, »wir haben Besuch von der Gestapo!«
Das war im Jahr zuvor, im September 1943, in Joigny. Vielmehr im Vorort von Épizy, am Treidelweg.
Das Haus von Irène Chiot war ein ehemaliger Bauernhof mit mehreren Gebäuden um einen grasbewachsenen Hof. Es war Mittag, mehr oder weniger. Zwei Tage zuvor hatten wir in Pontigny einen Munitionszug der Wehrmacht in die Luft gesprengt, und einer aus unserer Gruppe war verschwunden. Ich war nach Laroche-Migennes gegangen, wo wir Stützpunkte hatten: Verstecke, Briefkästen, gut bewaffnete Schockgruppen. Aber Georges V . blieb un
auffindbar, es gab keine Möglichkeit, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Einige Hinweise ließen sogar befürchten, dass er verhaftet worden war. Im Morgengrauen hatte ich, nach einer durchwachten Nacht wieder in Épizy, ein paar Stunden in dem Zimmer geschlafen, das ich gewöhnlich benutzte.
Es war also mehr oder weniger Mittag, ich wachte auf, mit schwerer Zunge. Ich dachte an den verschwundenen Georges V . Ich durchquerte den Hof zu dem Gebäude, in dem sich die Küche befand: Irène sollte mir einen Kaffee machen.
Nur: wir hatten Besuch von der Gestapo.
Ich habe Irènes Stimme gehört und neben ihr einen Typ im Regenmantel vor mir stehen sehen, der seinen Hut aufbehalten hatte. Er schnitt eine Art Grimasse, als er mich hereinkommen sah, die in seinem Mund eine Menge Goldzähne entblößte. Weiter entfernt eine junge entsetzte Frau. Aber ich fühlte eine andere, nähere Gegenwart zu meiner Rechten, ein wenig hinter mir. Ich habe mich instinktiv zu ihr umgedreht und dabei versucht, rasch den Revolver zu ziehen, den ich beim Erwachen unter meinen Gürtel geschoben hatte.
Irènes Blick war voller Hoffnung, auch Ermunterung. Sicher war sie begeistert zu sehen, dass ich mich zu verteidigen suchte. Vielleicht hoffte sie sogar, dass ich Erfolg hätte, dass es mir gelänge, uns aus dieser Falle zu befreien, indem ich als Erster schoss.
Aber der verdammte Revolver, mit dem ich an jenem Tag bewaffnet war, war nicht mein üblicher 11.45. Es war ein kanadischer Revolver, von denen man uns vor kurzem ei
nige Dutzend Exemplare abgeworfen hatte und den ich ausprobieren wollte. Und dieser verdammte neue Revolver hatte eine größere, weniger glatte Trommel als mein üblicher Smith and Wesson.
Es gelang mir nicht, ihn herauszuziehen, die Trommel blieb an meinem Ledergürtel hängen.
Der Typ, zu dem ich mich umgedreht hatte, hatte bereits seine Pistole in der Hand, eine große Neun-Millimeter-Automatik, auf den ersten Blick. Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich mich aus der Realität gestohlen, mir schien, als sähe ich die Szene wie im Kino. Ich war im Kino, ich sah einen Kriminalfilm, und dieser Typ da vor mir würde gleich schießen, würde auf den Abzug seiner Parabellum drücken.
Ich betrachtete die Szene dieses Kriminalfilms, und ich dachte, der arme junge Mann käme nicht davon: sechs Schüsse in den Bauch, Leben adieu! Aber nein, es geschah etwas Unerwartetes. Genau in dem Augenblick, da es mir gelang, die Trommel meines Revolvers freizubekommen, drehte der Typ der Gestapo, statt zu schießen, seine schwere Automatik um, packte sie beim Lauf und schlug mir mit aller Kraft auf den Schädel.
Zweifellos ein guter beruflicher Reflex. Ein Toter spricht ja nicht, und sie hatten durchaus die Absicht, mich zum Sprechen zu bringen.
Jedenfalls war mein Gesicht blutüberströmt, ich sah nichts mehr. Ich bin in die Knie gegangen.
Dann haben die beiden Typen der Gestapo – derjenige, der den Hut aufbehalten
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