Überlebensübungen - Erzählung
Mission?
Dagegen lässt sich die Persönlichkeit von Tenenbaum zum Teil entschlüsseln. Sein Berufsprofil zeichnet sich besser ab.
Denn Oberleutnant Edward A. Tennenbaum war Offi
zier des militärischen Nachrichtendiensts in der Kriegspropagandaeinheit des Hauptquartiers der 12. Heeresgruppe unter der Führung von General Omar N. Bradley.
Wir wissen kaum mehr über ihn, aber das genügt.
Es reicht aus, um sich ihren Dialog, ihre erregten, ergriffenen Überraschungsrufe vorzustellen, als sie, beim Einbiegen in die zum Eingang von Buchenwald führende Straße, die Einheiten der bewaffneten Häftlinge erblickten.
Denn etwas steht fest.
Als sie gemeinsam, da sie ein Team bildeten, auch wenn wir nicht wissen, warum, mit der Vorhut der amerikanischen Armee in die Tiefen Deutschlands eindrangen, werden Fleck und Tenenbaum schon mehr oder weniger bedeutende Lager gesehen haben, die von dieser Vorhut befreit worden waren. Sie werden bereits ausgehungerte Männer, »hungry-looking men«, gesehen haben, die sie wahrscheinlich mit erloschenem, verwüstetem, tödlichem Blick beobachteten, Überlebende. Sie werden die absolute Apathie der Überlebenden bemerkt haben, die nichts mehr vom Leben verlangten, sich bereits diesseits jeglichen Überlebens befanden.
Aber noch nie werden sie bewaffnete Häftlinge gesehen haben.
Zwar waren wir ausgehungert, taumelten, hatten vermutlich hervorquellende Augen, aber wir waren bewaffnet; sie mit wilder Freude zur Schau stellend (ich greife die Termini ihres vorläufigen Berichts auf). Waffen – Gewehre, Bazookas, Handgranaten –, seit Jahren heimlich gesammelt, eine nach der andern, manchmal in Einzeltei
len, für diesen denkwürdigen Apriltag aus ihren Verstecken geholt. Waffen, die nicht nur die wiedergefundene Freiheit symbolisierten, sondern weit mehr noch eine zurückeroberte Würde.
Man kann verstehen, dass Fleck und Tenenbaum, amerikanische Juden, im Begriff, die Verbrechen des Nazismus zu entdecken, insbesondere die Ausrottung ihres Volkes, man kann verstehen, dass sie erschüttert waren, als sie die bewaffneten Einheiten der Häftlinge von Buchenwald sahen.
Es war das erste Mal, dass sie so etwas sahen: bewaffnete Häftlinge, ausgelassen fröhlich, »they laughed and waved wildly as they walked … These were the inmates of Buchenwald, walking out to war as tanks swept by at 25 miles an hour …«
Sie müssen Freudenrufe ausgestoßen haben, unsere beiden Figuren eines zu schreibenden Romans. Man kann sich ihre Schreie vorstellen, ihren Dialog, als sie dieses unerhörte Schauspiel entdeckten.
Unsererseits hatten wir diesen Jeep nicht bemerkt. Jedenfalls ich habe ihn nicht bemerkt.
Wir sind uns begegnet, das ist alles, aus den Augen, aus dem Sinn.
Hinweis des Verlags
Überlebensübungen ist ein unvollendeter Text. Jorge Semprun arbeitete daran, als die Krankheit ihn am Weiterschreiben hinderte.
In Gesprächen mit Franck Apprederis für die Realisierung des Dokumentarfilms Empreintes: Jorge Semprun , der 2010 fertiggestellt wurde, erklärte er, er beginne gerade ein Buch, das »als Fortsetzung konzipiert« sei:
Es wäre schwierig, auf eine Phase meines Lebens zu stoßen, in der ich nicht an irgendetwas arbeite, weil Schreiben zu meinem Lebensinhalt gehört, um das Leben zu akzeptieren, wie es ist. Also bin ich gerade dabei zu arbeiten. Aber vielleicht an zu vielen Plänen gleichzeitig. Zwei sind grundlegend: ein »wahrer« Roman, nun ja, eine Geschichte, in der alles wahr wäre, weil ich alles erfunden hätte, außer der Geschichte des 20. Jahrhunderts im Hintergrund. Und dann eine Reflexion, die die autobiographischen Themen aufgreifen soll, die ich bereits zur Sprache gebracht habe, jedoch »systematischer«. Dieses Buch wäre als Fortsetzung konzipiert. Es könnte ein, zwei, drei, vier Teile umfassen, alle mit demselben Titel: Überlebensübungen , ein Buch, in dem ich das Leben, mein Leben, dem Thema entsprechend rekonstruiere. Der erste Teil ist praktisch fertig und handelt von der Erfahrung der Résistance und meiner Jugend. Über das Thema, mit
dem er sich verbindet, habe ich bisher sehr wenig gesprochen, hier aber behandele ich es vor dem Hintergrund des eigenen Erlebens wie der Reflexion: Es handelt sich um die Folter.
Hier also der erste Teil dieses nach Jorge Sempruns Worten »unendlichen Buchs«.
Anmerkungen
S. 14: Patrice de La Tour du Pin (1911-1975), Die schlafende Laurence : »Auf ihren Füßen dieser Geruch nach Narzisse und Minze, /
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