Überlebensübungen - Erzählung
Erinnerun
gen, die glatte, eisige Perspektive des Todes aufzuzwingen.
Der Widerstand gegen die Folter, selbst wenn sie letztlich eine Niederlage bedeutet – ob sie nun Stunden, Tage, Wochen dauert –, ist ganz und gar von einem unmenschlichen, übermenschlichen Willen durchdrungen, mehr noch, von einem Willen nach Überschreitung, nach Transzendenz. Damit sie einen Sinn hat, fruchtbar wird, muss man in der entsetzlichen Einsamkeit der Marter das Wir-Ideal postulieren, eine unaufhörlich zu verlängernde, zu rekonstruierende, zu erfindende gemeinsame Geschichte.
Die historische Kontinuität der Gattung in dem, was sie an möglicher Menschlichkeit, Brüderlichkeit birgt: nicht mehr und nicht weniger.
Und als »Tancrède« zu sprechen aufhörte, wusste ich also fast alles über die Methoden der Gestapo, ich wusste, welche Prüfung mich erwartete, aber ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, inwiefern diese Erfahrung mich berühren, vielleicht sogar verändern könnte. Oder mich zerstören könnte.
Man kann es nicht vorher wissen.
»Sagen Sie, Gérard, ist ›Tancrèdes‹ kurze Darstellung, seine Beschreibung der Methoden der Gestapo, Sie erinnern sich, Ihnen nützlich gewesen?«
Diese Frage stellte mir ein Jahr später Henri Frager, »Paul«, an einem Sonntag im Herbst 1944 in Buchenwald.
Es war nach dem Mittagsappell, in der Baracke der Ar
beitsstatistik. Ich hatte ihm Kaffee angeboten, nun ja, jenes Gebräu, das aus Bequemlichkeit Kaffee genannt wurde, das aber heiß war, sein hauptsächliches Verdienst, und zuckersüß, vielmehr sacharinsüß.
Einige Wochen zuvor hatte ich genau hier, an dem langen Tisch der Zentralkartei, den Kopf gehoben. Willi Seifert, der Kapo der Arbeit , trat an mich heran. Hinter ihm spiegelte sich die Sonne in den Scheiben der Baracke. Auch der Rauch des nahen Krematoriums war zu sehen: an jenem Tag grau und leicht. Seifert brachte mir eine Sondernachricht der Politischen Abteilung, anders gesagt der Antenne der Gestapo in Buchenwald.
Es war eine Liste von Neuankömmlingen, etwa dreißig vorschriftsmäßig nummerierten Häftlingen, die einem besonderen Isolierblock zugeteilt werden sollten.
Ich hatte die Liste vor Augen, die Sonne schien, der Rauch des Krematoriums war leicht. Die meisten Neuankömmlinge waren Franzosen, aber es gab unter ihnen auch einige britische Namen.
Dieses simple Detail, zusammen mit der ihnen zugedachten Sonderbehandlung – Isolierung, besondere Aufmerksamkeit der Gestapo –, ließ darauf schließen, dass diese etwa dreißig Männer vermutlich Persönlichkeiten der Résistance waren, wahrscheinlich Anführer der alliierten Informations- und Aktionsnetze.
Und mitten in der Liste ist mir ein Name in die Augen gesprungen: Henri Frager, Architekt. Plötzlich erinnerte ich mich, dass ihn eines Tages – vielleicht genau an jenem Tag, an dem »Paul« mich in ein stattliches Gebäude an der Porte der Ternes brachte – jemand in meiner Ge
genwart »Henri« gerufen hatte. War es die junge blonde Frau, die mir die Tür geöffnet hatte? War es »Tancrède«? Jedenfalls hatte jemand diesen Vornamen fallenlassen. Und dann, und hier war ich meiner Quelle sicher, hatte mich »Tancrède« auf unsere Reise durch Burgund nach dem Fallschirmabwurf wissen lassen, dass »Paul« Architekt war.
Ich hatte alle diese neuen Namen auf die Karten der Zentralkartei geschrieben. Ich hatte »Frager, Henri, Architekt« geschrieben. Ich hatte auch den Namen von Stéphane Hessel geschrieben, auch wenn ich mich nicht daran erinnere. Ich hatte zwangsläufig den Namen Hessel geschrieben, da er auf besagter Liste stand. Im Übrigen hat Stéphane Hessel in einem Erinnerungsbuch die Geschichte dieser Gruppe von Häftlingen erzählt.
Es ist eine Geschichte, die er erlebt hat: niemand kann sie besser erzählen als er. Ich werde nur meinen Senf, meine persönlichen Erlebnisse dazugeben: also wie Fabrice in Waterloo.
Über die deutschen Genossen bekam ich zunächst die Bestätigung des Status der Neuankömmlinge. Es waren tatsächlich Anführer von Widerstandsnetzen. Alle hatten dort eine erstrangige Rolle gespielt. Doch die Absichten der Gestapo ihnen gegenüber waren unklar. Warum waren sie nicht erschossen worden? Warum wurden sie zusammen untergebracht, von den anderen Häftlingen isoliert? Betrachtete man sie als Geiseln, als mögliches Tauschmittel mit London?
Jedenfalls – wieder informierte mich ein deutscher Kommunist der Untergrundorganisation darüber – hatten
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