Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Übersinnlich

Übersinnlich

Titel: Übersinnlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Dirks
Vom Netzwerk:
westlichen Horizont versank. Umso deutlicher konnte er weiter nördlich das Licht am Himmel sehen. Sein Herz schlug wie wild gegen die Rippen, doch er rannte unermüdlich weiter. Gleich würde seine Kraft zurückkehren und er würde das Inferno sein, welches jeden von Alices Verfolgern in die Hölle beförderte.
    Doch zunächst stand ihm seine eigene Hölle bevor.
    Der Scheiterhaufen brannte lichterloh. Die angebundene Gestalt war nicht mehr als ein geschwärztes Bündel Elend. Gestank von verbranntem Fleisch lag in der Luft. Mit einem Aufschrei stürzte er sich in die Menge. Seine Wandlung fand im selben Moment statt, als er die Kehlen der ersten Schaulustigen herausgerissen hatte. Bewegung kam auf. Vom schaurigen Vergnügen glasig gewordene Blicke der Umstehenden wurden schlagartig klar. Panik zog durch die Meute, wie aufgeschrecktes Vieh stoben sie auseinander. Jeder, der ihm in seiner rasenden Wut in die Quere kam, fand augenblicklich den Tod. Eine kräftige Windböe zog über das Massaker hinweg wie ein drohendes Wort Gottes. Es fing an zu regnen. Sturzbäche verwandelten den Platz in einen matschigen Ort des Grauens.
    Die letzten Flammen erloschen und der zu Asche verbrannte Körper seiner Geliebten rieselte zu Boden. Cayden riss sich das blutbesudelte Hemd vom Körper und sank vor dem Pfahl in die Knie. Alles verzehrender Schmerz hüllte ihn ein. Sein Schrei zog über die Köpfe der letzten Fliehenden hinweg. Tränen und Regen tropften von seiner Nasenspitze, als er mit fahrigen Bewegungen die Überreste von Alice Molland in sein Hemd wischte. Das fest verknotete Bündel presste er an seine Brust.
    Unter den geöffneten Schleusen des Himmels saß er da. Allein. Am Scheideweg seines neuen Daseins. Eine Ewigkeit stand ihm bevor, eine Ewigkeit, in der es eins nicht geben würde – Liebe.

Andrea Gunschera
    Eine Novelle aus dem City of Angels Universum
    Vorsichtig, um Alan nicht zu wecken, zog Eve einen Fuß unter dem Laken hervor. Sie richtete sich auf, der seidige Stoff glitt von ihrem Körper, ein Schwall Kälte aus der Klimaanlage überzog ihre Brüste mit Gänsehaut.
    Sie verlagerte ihr Gewicht auf die Bettkante und tastete mit den Zehen über den Parkettfußboden, lauschte Alans Atemzügen. Als seine Hand ihren Rücken berührte, zuckte sie zusammen.
    „Wo willst du hin?“, murmelte er.
    „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht wecken.“
    Die Ziffern des Digitalweckers warfen einen grünlichen Widerschein auf den Teppich. Zwei Stunden nach Mitternacht.
    Seine Hand glitt ihre Seite hinab bis zur Hüfte. Fast wollte sie der Einladung nachgeben, die seine Finger auf ihre Oberschenkel zeichneten, doch dann stand sie abrupt auf. Der kalte Luftstrom ließ sie frösteln. Ihr war nicht wirklich nach Sex zumute. Sie konnte nicht aufhören, an die Mädchenleiche zu denken, die sie gestern gefunden hatten. Der Kordon aus gelbem Absperrband, der Widerschein von Blaulicht auf den Gesichtern der Gaffer. Furcht und Misstrauen glänzten in den dunklen Augenpaaren der Menschen, und dahinter lag ein wissender Ausdruck, als würden sie eine verborgene Wahrheit kennen.
    Sie schob das Fenster auf und lehnte sich hinaus.
    „Was ist?“, fragte Alan.
    „Ich kann nicht schlafen.“
    Laken raschelten. Sie hörte, wie er sich halb aufrichtete. Fast fühlte sie sich schuldig, weil sie ihn um den Schlaf brachte. Er besaß ein so feines Gespür dafür, wenn etwas sie bedrückte, dass es fast schon unheimlich war. Wenn sie nicht schlafen konnte, fand auch er keine Ruhe. Der Gedanke ließ sie lächeln, für einen Moment.
    „Erzähl’s mir, dann fühlst du dich besser.“
    Sie blickte hinab auf die Figueroastreet, dunkler Asphalt, Baumkronen, ein einzelner Wagen, der an der Ampel hielt. „Ich frage mich, warum zur Hölle ich mir diesen Job antue. Die Presse ist voll mit Berichten über den Etherlight-Prozess, wer braucht da noch meine Kolumne? Kein Mensch interessiert sich für ein paar tote Latinomädchen in Pico Union.“
    „Ärgerst du dich, weil die L. A. Times deinen Artikel auf Seite vier verbannt hat? Komm schon, da stehst du doch drüber.“
    „Darum geht es nicht.“ In ihrem Magen ballte sich ein Knoten. „Es geht darum, dass sich keiner für diese Leute interessiert.“ Sie drehte den Kopf und sah ihn an. „Ein perverses Arschloch schlitzt junge Mädchen auf und das LAPD stellt nur zwei lumpige Detectives ab, weil es die Frauen und Töchter von Tagelöhnern aus Pico Union sind und nicht irgendwelche

Weitere Kostenlose Bücher