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Übersinnlich

Übersinnlich

Titel: Übersinnlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Dirks
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ausschließlich von Latinos bewohnt war.
    Der Schrein reichte ihr zu den Knien und beherbergte ein Heiligenfigürchen in einer rotblauen Marienrobe, behängt mit Plastikperlen und Kunstblumen. Anstelle des Kopfes hatte sie einen Totenschädel, verziert mit einer Messingkrone. Zwischen die Zacken waren Unmengen von Fotos geklemmt.
    Eve musterte die Opfergaben. Votivkerzen, noch mehr Plastikblumen, dazwischen halb verwelkte, echte Blüten. Ein süßlicher Gestank stieg ihr in die Nase. Angewidert verzog sie das Gesicht, als sie den Rattenkadaver entdeckte. Der Boden rund um den Schrein war dunkel verfärbt. War das Blut?
    Sie warf einen Blick über die Schulter und zuckte zusammen, weil da plötzlich ein Junge stand, der vor zwei Sekunden noch nicht da gewesen war.
    „Wollen Sie den großen sehen, Ma’am? Den echten Schrein?“ Der Bursche war vielleicht acht Jahre alt. In seinen dunkelbraunen Augen blitzte Straßenschläue. „Zehn Dollar, Ma’am und ich bringe Sie hin.“
    „Wo ist dieser Schrein?“
    „Nicht weit.“ Der Junge grinste. „Im Schatten, Ma’am. Wenn Sie wollen, dass Ihr Wunsch sich auch wirklich erfüllt.“
    Der Junge führte sie nicht in einen Hinterhalt, wie Eve halb befürchtet hatte. Er kletterte eine Unterführung hinunter, die nach Urin stank, und lotste sie eine zweite Treppenflucht hinab in ein Kellergewölbe.
    „Sehen Sie, Ma’am.“ Er verschränkte die dünnen Arme. „Der richtige Schrein.“
    Brennende Kerzen bedeckten den Boden und ließen nur einen schmalen Durchgang zum Altar frei. Die Statue im Schrein war lebensgroß, ein menschliches Skelett in einer weißen Robe. Der Schädel unter der Kapuze sah so echt aus, dass sie schauderte. Zwischen den Zähnen klebte eine halb aufgerauchte Zigarre. Der heilige Tod hielt eine Sense in der rechten Hand und eine Glaskugel in der linken.
    „Wow.“ Ihre Stimme hallte hohl von den Wänden zurück.
    „Kann ich jetzt die zehn Dollar haben, Ma’am?“
    Sie öffnete ihre Handtasche. „Wie heißt du?“
    „Marty, Ma’am.“
    Sein Name traf sie wie ein Guss Wasser.
    Ihre Mimik schien sie zu verraten, denn der Junge räusperte sich unbehaglich. „Ma’am, stimmt was nicht?“
    Sie blinzelte ein paar Mal und schüttelte den Kopf. Der Name brachte sie aus dem Konzept. Das und die schlechte Luft hier unten, diese Mischung aus Rauch und Kerzenwachs, welken Rosen und verrottendem Fleisch. Mit tauben Fingern zog sie eine Zehndollarnote aus dem Bündel. Ihr Blick blieb an den Stufen hängen, die auf der Rückseite der Statue noch tiefer ins Dunkel führten. Marty griff nach dem Geldschein, aber sie zog ihre Hand zurück.

    Engelsjagd,
ISBN: 978-3-941547-05-6
    „Marty, wohin führt diese Treppe?“
    „In die Kanäle. Aber da würde ich nicht runtergehen, Ma’am.“
    „Warum nicht?“
    „Leute verschwinden da unten, verirren sich. Aber ich kann einen Führer organisieren, wenn Sie wollen.“ Sein entwaffnendes Grinsen kehrte zurück. „Für fünf Dollar Vermittlungsgebühr.“

    Eve liebte es, Alan beim Malen zu beobachten. In diesen Momenten spürte sie deutlicher als sonst das Band zwischen ihnen vibrieren. Ein Gefühl inniger Verbundenheit erfüllte die Stille, das weit tiefer reichte als das Feuer der ersten Verliebtheit und das ihre Sorgen bedeutungslos machte.
    Doch nach dem Gespräch mit dem Reverend und der Begegnung mit dem Jungen, der sie zu dem gruseligen, unterirdischen Schrein geführt hatte, wollte die Ruhe sich nicht einstellen. Sie beobachtete Alan, wie er den Pinsel in leuchtendes Gelb tauchte und den Hintergrund der Leinwand ausmalte. Seine Gemälde waren Explosionen aus Farbe und Licht. Auch wenn das nie seine Absicht gewesen war, hatte ihm sein einzigartiger Cartoonstil den Weg in den Olymp der amerikanischen Kunstszene geebnet. Ihm und dem Jungen namens Marty, der stellvertretend für die verlorenen Kinder aus South Central L. A. posierte, mit einer Pistole und seiner Bandana in Gangfarben.
    „Ich weiß, es klingt verrückt“, sagte Eve.
    Er sah kurz auf, hielt aber nicht inne im Malen. Kaum vorstellbar, dass diese langen, schlanken Finger mit dem Schwert ebenso talentiert waren wie mit dem Pinsel. Doch sie hatte ihn kämpfen gesehen, in all seiner schrecklichen Schönheit, die ihm den Beinamen Schattenherz eingebracht hatte.
    „Der Vater des Jungen heißt Javier Cardenas und hat den Jungen Marty genannt, nach seinem Bruder, der vor fünfzehn Jahren bei einer Schießerei ums Leben gekommen ist.“ Sie beobachtete

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